Wir geben uns das Lernen zurück

Zu viert sitzen wir um den Tisch. Was kommt auf uns zu? Wie gehen wir an, was noch keiner von uns umschreiben kann? Wie hinterfragen und erweitern wir, was schon ganz gut funktioniert? Viele Fragen - und auch einige Ideen. Wir geben ihnen Raum, den Ideen. Und verschieben die Fragen auf später. Wir steigen ein.

Sich Zeit geben, um weiter zu denken. Dem Projekt Zeit schenken, um bisher Verborgenes oder wenig Beachtetes zu entdecken, zu benennen. Ein weiterer Lernprozess. Das ist unser Ziel. Wie gelingt es, Bestehendes und Funktionierendes zu achten, zu stärken und doch den Weg und den Raum frei zu machen für neue Entwicklungen? Das ist die Herausforderung. 

Notizen aus dem Ideenfindungsprozess
Notizen aus dem Ideenfindungsprozess

Anfang dieses Jahres haben wir losgelegt. Wir verständigten uns in einer kleineren Gruppe, diese Visionsarbeit neben den laufenden Projekten anzupacken. Spurgruppe? Think Tank? Egal. Wichtig war uns, den Moment des Aufbruchs, die Energie der sich wieder öffnenden Bewegungsräume nach der Enge der Pandemie nicht nur für die Stabilisierung des Bekannten zu nutzen, sondern Ausschau zu halten nach noch nicht entdeckten Möglichkeiten, um die Idee “Colearning” zu erweitern. 

Wir haben uns zudem für diese Arbeit in einer Gruppe zusammengefunden, in der alle auch persönlich offen waren für eine Neuorientierung. Diese Ausgangslage erforderte, neben der Ideenfindung stets eine realistische und zeitnahe Umsetzung der einen oder anderen Idee im Auge zu haben.

Die Visionsreise in der angesprochenen Gruppe trug uns zuerst in die Wolken und darüber hinaus. Es versammelte sich einiges an Gewünschtem, Faszinierendem, Gedachtem und schon immer Gewolltem. Mittels Skizze habe ich versucht darzustellen, wie wir unsere Ideen in einer “Wolke” eingefangen haben, um sie dann im “Maschinenraum” genauer zu definieren, mit bestehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten zu kombinieren und daraus neue “Keimlinge” entstehen zu lassen. 

Von der Wolke durch den Maschinenraum zu den Keimlingen
Von der Wolke durch den Maschinenraum zu den Keimlingen

Aufbauen auf dem was ist - und dazulernen

Der Blick zurück. Mit dem ins Coworking integrierten Angebot Colearning Bern haben wir erste Erfahrungen mit einer freieren Form von Lernen gemacht. Vor der Pandemie, während Corona und im Übergang in ein neues Normal. Wechselhafte, anspruchsvolle Zeiten. Für uns alle. Unser Ziel, die Arbeits- und die Lernwelt zu verbinden, ein generationenübergreifender Lern- und Arbeitsort zu sein, haben wir in ersten Schritten erreicht. Auch gelang es uns mit unterschiedlichen Instrumenten und Gefäßen, das Lernen sichtbar zu machen und miteinander Lernerfahrungen zu teilen. Erreicht, meint jedoch nie abschliessend. 

Ein Blog, der ein Interview mit einem jungen Colearner abbildet, gibt Einblick ins Lern-Universum des Colearnings und macht deutlich, welche Kultur von Lernen wir meinen und warum wir unsere Zeit für dieses Projekt investieren. Die Aussagen berühren mich immer wieder und machen deutlich, dass wir mit unseren Bestrebungen auf dem richtigen Weg sind. Doch wir sind uns bewusst und freuen uns auch darüber, dass das Lernen immer weitergeht. Ein Leben lang. 

Colearning als lernende Organisation

Und dazulernen wollen wir auch bei der Weiterentwicklung des Colearnings. Wir verstehen uns als lernende Organisation, sind anpassungsfähig und reagieren sowohl auf äussere wie auch auf innere Reize. Wichtig ist uns dabei nicht nur eine ganzheitliche Betrachtung des Colearnings, sondern auch das Lernen im Team sowie als Individuum und Teil des Teams. 

Die Learnings, die wir in der Anfangszeit gemacht haben, haben wir regelmässig in unseren Blogs beschrieben und diskutiert. Die offene Reflexion, auch zum Lernen der Organisation, hat uns eine gute Grundlage für unseren Visionsprozess geliefert. So sind hinterfragte Lernerfahrungen, gerade auch unangenehme, oft die spannendsten Lernhelferinnen.

Lerneffekt durch Pandemie

Es ist uns zum Beispiel gelungen, Auswirkungen der Pandemie als positiven Effekt zu nutzen. Nicht nur, was die Digitalisierung betrifft. Speziell in Erinnerung ist mir nämlich die Situation, dass wir uns mit der ersten Colearnergruppe, vor allem  jugendliche Homeschooler, ungewollt zu sehr in schulische Abläufe haben treiben lassen. Die Befreiung des Lernens drohte zu scheitern, weil wir plötzlich ein Lernatelier hatten, das einer Schulstube glich mit erwachsenen Menschen, die sich alle Mühe gaben, das Lernen durch Inputs und Impulse anzukurbeln. So fanden sich diese Lernmoderator:innen urplötzlich am Tisch mit jungen Menschen wieder, die vor allem auch das Gruppenfeeling geniessen wollten und sich ansonsten nur zu gerne durch den Halbtag kutschieren liessen. Wie schnell das gehen kann! Unglaublich. So hatten wir uns das nun sicher nicht vorgestellt. Was tun? Da wir zwar auf einem Konzept als Orientierungshilfe basierten, jedoch ganz bewusst schauen wollten, was sich entlang der mitwirkenden Menschen entwickelt, waren wir herausgefordert, gemeinsam mit den nun beteiligten Personen eine Anpassung der Lernkultur zu erreichen. Das gelang einigermassen. Es ist keine neue Erkenntnis, dass sich wenig zielführende Kulturen rasch etablieren und dann schwer zu ändern sind. Davor waren also auch wir nicht gefeit. Und doch. Änderungen und Anpassungen können gelingen: Durch Einsicht oder durch das Eintreten einer Notsituation. Zu Hilfe kam uns die Pandemie. Die Notsituation. Tatsächlich. 

Lernen im Lernatelier
Lernen im Lernatelier

Mit Ausnahme des Lockdowns gelang es uns, den Coworking Space Effinger offen zu halten. Auch Colearning war möglich. Jedoch nur massnahmenkonform und zu den Bedingungen des Coworkings. Die Lerngruppe musste also aufgelöst werden und nur noch eine beschränkte Anzahl jugendliche Colearner:innen konnten auf Anmeldung im Space lernen. Diese und ein paar weitere Massnahmen führten rasch dazu, dass nur noch diejenigen Jugendlichen das Colearning besuchten, die wirklich selbstständig und eigenverantwortlich an ihren Projekten arbeiten wollten. Colearner:innen nutzten also fortan den Raum wie Coworker:innen. Das wurde unsere neue Lern- und Arbeitskultur. Und sie ist es bis heute geblieben. 

Lernunternehmen Pilzfarm Bern

Ein früherer Keimling ist inzwischen zu einem Früchte tragenden Unternehmen geworden. Unser erstes Lernunternehmen. Die Pilzfarm Bern. In der Zeit, in der wir also auf der einen Seite Colearning in Gedanken noch einmal in möglichst viele Einzelteile zerlegten, um weitere Entwicklungsmöglichkeiten zu entdecken, begann sich ein in der zweiten Jahreshälfte 2021 aufgezogenes Projekt zu entfalten. Förmlich und wortwörtlich! Unsere Pilzfarm im Keller des Effingers nahm nicht nur Form an, sondern brachte auch Ertrag. Was für eine Freude! Wir können Pilze züchten! Edelpilze. Auf der Basis von hauseigenem Kaffeesatz und Holzspänen aus dem Emmental. So werden Abfallprodukte zum Rohstoff für hochwertige Nahrungsmittel. Die Körnerbrut beziehen wir von Stadtpilze Basel, die uns nach wie vor wichtige Mentoren sind im lernintensiven Prozess. Auf der Website ist die erste Phase dieses Lernunternehmens nachgezeichnet und begleitet. Zwei Lernblogs geben zudem Einblick in die erste Phase des Projekts, zeigen auf, was wir mit einem Lernunternehmen genau meinen und wie wir diese besondere Art von Unternehmen in die Umsetzung bringen wollen. 

Der grosse Moment: Pilze aus dem Effinger!
Der grosse Moment: Pilze aus dem Effinger!

Nun - wie geht es weiter? Die Pilzfarmcrew, im Lead Hermann und Marlen, ist in die 2. Phase des Projekts gestartet und erste Pilze konnten bereits wieder geerntet und verkauft werden. Viele Learnings aus der ersten Phase wurden aufgenommen und entsprechend verarbeitet. Nachdem in der ersten Phase viel zur Aufzucht von Pilzen, deren Verwertung und der Arbeitsorganisation im Team gelernt werden konnte, geht es nun darum, sich gründlich mit dem Know How zum Aufbau eines Unternehmens zu beschäftigen.  Und wieder wird Learning by doing gefragt sein. Wenn die Pilzfarm in absehbarer Zeit einen grösseren Ertrag abwerfen soll, müssen nun weitere bauliche, infrastrukturelle und logistische Fragen geklärt werden. Eine nächste Stufe der Unternehmensgründung. Mit Unterstützung von anderen Colearner:innen und Expert:innen wird auch dieser Schritt zu schaffen sein. Es bleibt spannend. Weitere Pilzfarmer:innen sind immer willkommen. Interessierte melden sich direkt bei Hermann, Marlen oder via info@colearningbern.ch.

Colearning.org entsteht

Werfen wir noch einmal einen Blick in den parallel zu den alltäglichen Arbeiten laufenden Think Tank Colearning.org. Es liegt mittlerweile Vieles auf dem Tisch. Die Köpfe rauchen. Denn wir haben uns neben dem Pflücken von Ideen auch ein paar grundsätzliche Gedanken gemacht zu unserem Wirken. Mit Hilfe des Golden circle von Simon Sinek haben wir uns gefragt, warum wir tun, was wir tun, wofür wir es eigentlich tun und wie genau wir was machen wollen. Das geht an die Nieren! Und ans Eingemachte.

Die Überlegungen und die Diskussionen führen schliesslich zu einer ersten Version einer Verfassung für Colearning.org, zur Überarbeitung unseres Konzepts und zur Bildung von Teams, die nun interessengeleitet, selbstorganisiert und eigenverantwortlich Anpassungen und Neuentwicklungen planen und umsetzen. 

Start mit den Fragen zum Golden Circle
Start mit den Fragen zum Golden Circle

Mit dem Ziel, rasch zu ausprobierfähigen Projekten zu kommen, orientierten wir uns an der Scrum-Methode, einer Arbeitsweise, die Möglichkeiten für zielorientiertes Arbeiten in einem iterativen Prozess anbietet. Selbst als Lernende, als Selbstlerner in dieser Art von Projektentwicklung, sind wir einmal mehr “by doing” eingetaucht und noch nicht wieder vollständig aufgetaucht. Erste Ergebnisse sind jedoch sichtbar und sie erweitern in Zukunft die Palette von Colearning-Angeboten. 

Pilzfest und Zertifikate für scheidende Colearner

Dieser Brief darf nicht schliessen, ohne noch einmal auf die Aktivitäten von Colearning Bern zu fokussieren und einen Ausblick zu geben auf die weiterhin laufenden und die neu aufgegleisten Projekte.

Bis zur Sommerpause hatten wir im Colearning regen Betrieb. Sowohl jugendliche wie auch erwachsene Colearner:innen waren regelmässig im Coworking Space Effinger anzutreffen. Es fanden verschiedenste Mentorings statt und an Schatzhebungstreffen gaben wir einander Einblick in Lernprojekte und Aktivitäten im Rahmen von Colearning. 

Eindrücklich war dann im Juni das Pilzfest mit verschiedenen Pilzgerichten aus der Effingerzucht. Einen zusätzlichen Anstrich von Erntedankfest bekam dieser Anlass auch noch, weil wir mit diesem Event die neu ins Coworking Space Ensemble aufgenommene Stadtwohnung im  2. OG einweihen und zugleich zum ersten Mal mit zwei Colearnern den Übertritt ins Berufsleben gebührend feiern konnten. Die guten Wünsche und ein schön gerahmtes Colearning-Zertifikat durften natürlich nicht fehlen. Ehrensache: Die beiden angehenden Berufsleute bleiben uns als Colearner verbunden - einfach im Alumni-Status. 

Und so geht es weiter

Ein Mittwochabend im September. Die Koordinationsgruppe trifft sich zum Meeting. Es liegen intensive Wochen hinter uns, in denen wir uns in kleineren Teams daran machten, ausgewählte Colearning-Angebote zu konkretisieren. Heute Abend wollen wir einander vorstellen, wie sich die Arbeiten entwickelt haben und wo wir bezüglich Umsetzung im Moment stehen. Gemäss unseren Prinzipien arbeiten die Teams selbstorganisiert und in eigener Verantwortung. 

Die Entwicklungen der Pilzfarm habe ich schon erwähnt. Bei Colearning Bern haben wir uns einerseits um weitere jugendliche Colearner:innen bemüht und andererseits versucht, das Angebot für Erwachsene etwas klarer und konkreter zu fassen. Neben zwei jugendlichen Colearnern, die weiterhin dabei sind, bleibt die Gruppe der erwachsenen Colearner:innen stabil, nimmt jedoch noch nicht unseren Erwartungen entsprechend zu. Das Angebot der Zukunftsakademie ist sicher noch zu wenig bekannt, wie auch das Selbstlernen, das selbstständige Lernen für Erwachsene, das wir als Colearning im Coworking Space ermöglichen und unterstützen wollen. Noch zu sehr sitzen wir fest in einer Zeit, in der Lernen zwingend mit Schule oder Schulung zu tun haben muss. Fremdgesteuert und mit Abschlüssen bewertet. Und der Glaube, ohne teuer bezahlte Weiterbildung sei kein Zuwachs an Wissen und Kompetenz zu haben, herrscht vor. Veränderungen brauchen Zeit.  Wir bleiben dran. Die Entwicklung hin zum lebenslangen Lernen wird nicht aufzuhalten sein. Und wenn das Lernen Sinn und Spass macht, werden auch freie und natürliche Formen wieder ihren Stellenwert bekommen. Vielleicht gerade in der Verbindung von Lern- und Arbeitswelt. Wir suchen auf jeden Fall nach weiteren Wirkfeldern und bleiben offen für Interessierte und Entwicklungen. Als einfache Kontakt- und Kennenlernmöglichkeit bieten wir neu regelmässig ein Meetup zu Colearning im Erwachsenenalter an. Das nächste Treffen findet am 26. Oktober im Effinger statt. 

Und zum guten Schluss

Ich habe schon hingewiesen auf Reize, innere und äussere, die unser Handeln im Colearning beeinflussen. Wie schön und stimmig, wenn solche Impulse ausgehen von Menschen und Entwicklungen, die innerhalb der Organisation geschehen und auf diese Weise neue Lern- und Arbeitsfelder eröffnen. Da sind zwei Colearner, die länger im Colearning dabei sind und Berufswünsche im Bereich Mediamatik und Informatik äussern. Da sind zwei erwachsene Colearner, die sich vorstellen können, ihre berufliche Eigenständigkeit auszubauen und mit anderen Berufsleuten im Coworking Space eine Berufslehre zu schaffen, die im Verbund funktioniert und damit verschiedenste Tätigkeitsfelder offeriert. Aus der Idee wird rasch mehr und einige Gespräche, intensive Abklärungen und ein ausführliches Konzept später ist der Lehrbetriebsverbund YOLU als jüngste Entwicklung im Colearning gegründet. Und was für eine Freude, hat sich nun auch einer der Colearner für YOLU als Ausbildungsstelle entschieden.

Unsere Reise geht weiter. Wir sind unterwegs. Wir lernen dazu, teilen unsere Lernerfahrungen und machen sichtbar, was wir lernen. Zum Beispiel auch mit diesem Newsletter. Vielen Dank fürs Interesse!

Nimm mit uns Kontakt auf, wenn du im Colearning mitmachen oder bei anderen Aktivitäten dabei sein möchtest. Oder unterstütze unsere Bestrebungen hin zum befreiten und renaturierten Lernen als Komplizin oder Komplize. Das würde uns sehr freuen.