Neulich auf einer Bahnfahrt am frühen Samstagmorgen. Ein Gespräch im Abteil nebenan. Eine Gruppe ist auf dem Weg ins Skigebiet. Ältere und jüngere Leute. Ein junger Mann wird gefragt, was er den im Moment genau mache. Er erzählt, wie er nach Abschluss des Ingenieurstudiums wieder vor allem als Schreiner arbeitet und mit anderen jungen Handwerkern ein eigenes Business am Aufbauen ist. Ich höre zu, halb versunken in einem Republikartikel. Dann horche ich auf. Er sei stolz auf das Erreichte, sagt er. Sogar Französisch habe er noch gelernt, obschon er überzeugt war, mit dieser Sprache rein gar nichts am Hut zu haben. Ja, wie er das denn geschafft habe. Ein halbjähriger Aufenthalt in Frankreich. Diesmal ganz bewusst ohne Schule. Learning by doing, so wie er das von seinem Handwerk her kenne. Heute könne er diese Sprache vor allem sprechen und er verstehe das meiste. Habe weniger Hemmung, sich auszudrücken. Und er lerne dazu. “Was brauche ich mehr?” meint er. Schon verrückt, wirft eine etwas ältere Frau ein und erzählt, wie sie nun zeitlebens einen Bogen um diese Sprache gemacht habe, weil die Schule es geschafft habe, ihr jede Freude daran zu nehmen und ihr nur eines gezeigt habe: Dass sie es nicht könne - und wohl nie lerne.
Auf die Sitzbankkante rutschend rechnet der junge Mann mit den Fingern zeigend vor, wie viele Schuljahre er Französisch-Unterricht “genossen” habe. Neun! X Lektionen praktisch für nichts! Alltagsfremde Wörter auswendig lernen, schreiben, radebrechend lesen. Wozu? Was für ein Unsinn. Und welch eine Energie- und Zeitverschwendung. Output gleich null! Wenn er mit seinen Kollegen so geschäften würde, wären sie innert kürzester Zeit bankrott. Gelächter. Ja, die Schule, meint ein anderer seufzend beim Aufstehen. Da kenne er noch andere Leerläufe. Wie im Militär! Wieder Gelächter. Sei ja auch fast dasselbe, höre ich noch.
Das Bild von Schule
Ich bleibe zurück. Nachdenklich. Fast ein bisschen gleichgültig, zuerst. Ja, ich habe mich daran gewöhnt. An dieses Bild von Schule, geprägt von Erfahrungen, die nichts mit Lernfreude und Lernerfolgen zu tun haben. Und doch wurmt es mich. Schule kann auch anders. Im Wesentlichen entspricht das Gesprochene jedoch dem, was auch mir bekannt ist. Der Fremdsprachenunterricht, vor allem Französisch, ist eine Farce. Das kann niemand wollen, was da abläuft. Ein bedenkliches Beispiel, wie mit immer ausgefeilteren Methoden (vom Sprachlabor bis zum Sprachbad) Wirklichkeit arrangiert und ins Klassenzimmer geholt werden soll, was so einfach nicht funktioniert. Schule versucht verzweifelt, einen Lerngegenstand in seiner Obhut zu behalten, obschon Lernforschung und Sprachforschung längstens aufgezeigt haben, dass sich Sprache am besten auf natürliche Art in der entsprechenden Umgebung in alltäglichen Situationen entwickelt. Gut, um zu dieser Erkenntnis zu kommen bräuchte es eigentlich nur die Beobachtung unserer Kleinsten. Beim Lernen der Muttersprache. Egal. Man wurstelt weiter und hat nicht nur äusserst bescheidenen Erfolg, Schule vergrault auch noch Heerscharen von jungen Menschen das Lernen einer Sprache! Schule als Lernkillerin. Unglaublich! Wann hört dieser Unsinn endlich auf?
Aus dem Weg gehen
Ich frage mich einmal mehr, warum sich Schule nicht auf das konzentriert, was sie leisten und bieten kann und soll. Nämlich in erster Linie passende Lerngelegenheiten schaffen, und zwar individuell. Dann Lernmittel zur Verfügung stellen, Lernbegleitung organisieren, ein Ort des Austauschs sein. Und aus dem Weg gehen, wenn Lernen ohne schulische Strukturen oder ganz von alleine besser funktioniert.
Es ärgert mich. Es beschäftigt mich mehr, als ich gerade mag. Ich frage mich, was denn der junge Mann als Schüler unternommen hat, um besser lernen zu können. Schuld ist dann einfach die Schule, der Lehrer, die Lehrerin. Verzwickt. Ich komme mir mal wieder vor wie Kuno Lauener von Züri West, der im Song “Göteborg” heimgesucht wird von einer neuen Songidee, die er jetzt jedoch partout nicht gebrauchen kann. Er ist mit dem Auto unterwegs zum Flughafen. “Geh nur weg!” singt er. “Ich habe jetzt keine Zeit. Geh doch zum Heiniger oder zum Huber..”
Mir geht es zunehmend ähnlich, wenn Fehlentwicklungen der Schule thematisiert werden. Ich mag es nicht mehr hören. Der Aufschrei, wenn etwas nicht klappt, die Stille, wenn es darum geht, etwas zu verändern. Oft sind die Vorwürfe gerechtfertigt. Wie in diesem Beispiel. Und doch: Lernen (auch in der Schule) kann anders sein. Das zeigen viele engagierte Lehrpersonen und ganze Schulen. Leider werden diese kleineren und grösseren Leuchttürme oft als Feigenblatt gebraucht, um zu kaschieren, dass Schule als ganzes System träge, starr und veränderungsresistent ist. Leider.
Schulen als offene Lernorte
Auch ich habe nun den Zug gewechselt. Zeit, um noch ein paar Gedanken festzuhalten.
Wie vielfältig Schulen doch gestaltet werden könn(t)en, taucht vor mir auf. Nämlich dann, wenn tatsächlich die Interessen und die Bedürfnisse der Kinder im Zentrum stehen. Auf Selektion, Fächer, Stundenplan, 45-Minuten-Takt und Noten könnte so ganz verzichtet werden. Schulen wären dann offene Lernorte, allen zugänglich, die etwas lernen wollen und Unterstützung und Austausch dazu suchen. 365 Tage im Jahr geöffnet. Im Kontakt mit verschiedensten Lernpartner:innen im Dorf und weit über die Gegend hinaus. Den Beruf des Lehrers, der Lehrerin gibt es nicht mehr. Lehren ist out, lernen ist in. Die hier arbeitenden Erwachsenen haben die verschiedensten beruflichen Hintergründe und absolvieren eine Zusatzausbildung zur Lernexpertin, zum Lernexperten. Sie begleiten Lernende unterschiedlichsten Alters. Und verstehen sich selber auch immer wieder als Lernende. Niemand hat je ausgelernt. Und das wird als Glück und als Chance empfunden.
In solchen Schulen wird zum Beispiel auch anerkannt, dass Sprache von Sprechen und nicht von Schreiben, Sprachgebrauch von Brauchen und nicht von Auswendiglernen kommt. Gelernt wird die Sprache in erster Linie dort, wo sie gesprochen wird. Sprachaufenthalte sind nicht nur dazu da, das nachzuholen, was Schule über Jahre verpasst hat. Gefördert wird ein intensiver Schüleraustausch mit Partnerschulen aus anderen Sprachregionen, Schüler:innen führen ein Sprachcafé fürs ganze Dorf, gemeinsam mit Jugendorganisationen werden Ferienangebote in anderen Sprachregionen gemacht. Movetia ist die dafür passende nationale Organisation. Im Lernatelier stehen Lernenden individualisierte Online-Angebote zur Verfügung, natürlich auch zu Französisch.
Geht doch! denke ich. Wie immer optimistisch. Ginge doch, weiss ich. Eher pessimistisch. Das ist ja alles bekannt. Ändern tut sich trotzdem wenig.
Ein Lernunternehmen entsteht
Ich bin schon länger nicht mehr in diesem System tätig. Ich habe mir einen Ort gesucht, wo sich Dinge rascher ändern lassen, wo experimentiert wird, eigene Lernwege und gerne auch Abkürzungen und Umwege gegangen werden, wo Fehler passieren dürfen und Menschen einander in erster Linie stärken und unterstützen. Ich führe gemeinsam mit einer Gruppe von engagierten Leuten mit unterschiedlichsten Hintergründen und vielfältigsten Berufen den Coworking Space Effinger in Bern. Vor gut zwei Jahren haben wir zudem das Colearning gegründet. Weil der Sohn eines Coworkers nach der Montessori-Schule für die Oberstufe eine Anschlusslösung suchte. Andere jugendliche Homeschooler kamen dazu, mit der Zeit auch weitere Erwachsene. Heute sind die Colearne:innen fester Bestandteil der Coworking-Familie. Und wir suchen ständig Wege, Berufs- und Lernalltag zu verbinden, Lern- und Arbeitsprozesse zu verschmelzen. Ganz im Sinn von agilem Arbeiten und Lernen, von Working out loud und Learning out loud. Im Moment bauen wir ein Unternehmen auf, eine Pilzfarm genau genommen. Sie soll entstehen im Keller des Effingers. Wir tauchen gemeinsam ein in die Herausforderung, Arbeit bewusst als Lernen zu verstehen. Dieser Gründungs- und Lernprozess lebt vom Austausch von Lernerfahrungen und vom Aufbau von unterschiedlichsten Kompetenzen in einem vielfältigen Team. Es ist ein Lernunternehmen.
Diese Art zu lernen macht grossen Spass, jede Menge Sinn und hört niemals auf!
Lebensbegleitendes Lernen eben.
Interessierte sind jederzeit herzlich willkommen. Zum Gwundern, Schnuppern oder Colearnen.