Sprache verändert sich, mich und die Lehrwelt

Inspiration: IQES-Online
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Lerngang. Ich tippe meinen Suchbegriff ein.

Sprache ist überall. Sie ist Kommunikation. Sie ist in Beziehung treten. Auch mit der Maschine. Der Suchmaschine. Zum Beispiel.

Ich lande auf der Seite “Helles Köpfchen - mach dich schlau”. Wenige Treffer.
Hast du dich vertippt? Meintest du: Lehrgang? Oder Lernzwang? hmm.

Nein, ich habe mich nicht vertippt.

Anwendung und Wirkung von Sprache lässt mich gerade etwas genauer hinhören und -sehen. Nicht nur im Zusammenhang mit Lernen. Ich nehme wahr, wie Sprache differenziert gebraucht wird - und manchmal weniger. Worte werden mit Bedacht gewählt- und manchmal weniger. Vorsicht kommt ins Spiel. “Darf ich hier überhaupt noch sagen, was ich denke?” Ein weites Feld öffnet sich. Meine Gedanken schweifen ab.

Lerngang. Und meine Autokorrektur macht schon wieder einen Lehrgang daraus.

Es ist ein Kampf. Sprache wehrt sich. Mit ihren Waffen. Mit Regeln, Tradition und Gewohnheit. Oder mit Algorithmus. Manchmal auch gegen fremde Einflüsse, gesellschaftliche Veränderungen, Innovation.

Lerngang? oder Lehrgang?

Fast gleich - und doch so verschieden. Zwei Perspektiven. Meine ich nun Lehren oder Lernen? Ein ziemlicher Unterschied. Oder nicht? In der Realität aber recht verschwommen. Der berndeutsche Dialekt kennt zum Beispiel keinen Unterschied. Lerngang ist Lehrgang.

Doch: Ich verstehe unter einem Lehrgang, dass die Lehre, die Vermittlung, die Belehrung, der Transfer vom Wissenden zu den zu Belehrenden im Zentrum steht. Lernen mag auch geschehen, braucht jedoch die Übersetzungsleistung der Belehrten. Spreche ich hingegen von einem Lerngang, meine ich explizit, dass der sehr individuelle Gang des Lernens im Fokus steht und sich alle Aktivitäten (auch eventuelle Lehraktivitäten) auf das persönliche Lernen der Lernenden ausrichten und es ermöglichen und unterstützen sollen. Der Gebrauch des Begriffs “Lerngang” braucht darum Übung und entsprechende Konsequenz. Er muss eingeführt, gebraucht und natürlich gelebt werden. Wie Lernmittel. Oder Lernmaterialien. Dazu später mehr.

Eingabe Lehrgang: kein Problem. Eingabe Lerngang: Es harzt, immer noch.

Wenn wir Lernen also neu denken und als eine ureigene Tätigkeit schützen wollen, müssen wir uns dringend mit der angewendeten Sprache beschäftigen. Sie weist noch viele Artefakte aus alten Zeiten auf. Wer in ein Schulhaus oder ein Klassenzimmer hineinschaut, weiss auch warum. Die Zeit ist stehen geblieben. Technologische und methodische Veränderungen in der Pädagogik beeinflussen die Bildungssprache noch am ehesten. Gesellschaftliche Entwicklungen haben es da deutlich schwerer. Das Bewahrende illustrieren nicht nur die kasernenartigen Gebäude, sondern auch die Begriffe, die das Tun in diesen Gemäuern beschreiben.

Da ist zum Beispiel ein Begriff aus der Evolutionstheorie, der in gravierender und schon fast naiv offener Weise beschreibt, welche Kultur der “Förderung” in diesen Institutionen nach wie vor aktuell ist:

Die Selektion.

Die Bedeutung ist Auslese, Auswahl. Charles Darwin hat sie im 19. Jahrhundert eingeführt und damit den Grundstein zum heutigen Wissen zur Entwicklung der Arten gelegt. Und in der Schule? In einer frühen Phase des Lernens werden auf äusserst fragwürdige Weise Weichen gestellt, deren Sinn und Zweck sich längst als nutzlos oder gar hindernd für die Entwicklung von jungen Menschen erwiesen hat. Verantwortliche versuchen, die Wirkungen abzuschwächen, organisieren Durchlässigkeit. Alles Schönfärberei. Im Endeffekt bleibt dieser Moment im Leben vieler Schulkinder das, was das Wort im ursprünglichen Sinn bedeutet: Ausgesiebt, triagiert und beschämt.

Selektion aufheben? Übergänge anders organisieren und neu benennen? Änderungen werden eingefordert. Nicht zum ersten Mal. Nach hinten schieben ist eine diskutierte Variante. Immerhin. Doch: Wir bringen ihn nicht weg aus der Bildung, den guten Darwin. “Survival of the fittest” bleibt Doktrin im Bildungssystem. Es überleben und gedeihen die gut Angepassten - und Protegierten.

Wir selektionieren (“die Spreu vom Weizen trennen”) und selektieren (“aus einer Menge eine Teilmenge nach bestimmten Gesichtspunkten aussondern") also munter weiter. Und durchziehen ganze Generationen von hoffnungsvollen jungen Menschen mit einem Kamm, der vor allem Verlierer:innen produziert. Wesentliche Talente und Fähigkeiten fallen durch und gehen der Gesellschaft vielleicht sogar für immer verloren. Nutzloses Wissen wird prämiert. Ich fürchte, solange die Selektion als Begriff und Sortiermaschine funktioniert, wird sich in der Volksschule nichts Grundsätzliches ändern. Darum: Die Selektion muss weg. Dringend.

Sprache beeinflusst unser Denken und Handeln. Sprache formt, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Sprachwissenschaftler erklären, dass unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Konzepte von Welt erzeugen. Sprechen wir von Selektion oder Förderung? Eine andere Sprache macht uns zu einem anders denkenden Menschen. Klimawandel klingt neutral, Klimakrise hingegen nach einem echten Problem. Spricht im Sport noch jemand von Spielermaterial? Gibt es im Frauensport noch Mannschaften? Sind Menschen noch Manövriermasse? Sprache hat sich schon immer vor allem dadurch verändert, dass Menschen sie anders gebraucht haben. Oder bewusster. So fällt mir auf, dass seit dem Aufflammen neuer Kriege deutlich weniger kriegerische Ausdrücke gebraucht werden. Wenn Worte “wie Bomben” einschlagen oder Vorschläge “abgeschossen” werden, beschleicht viele von uns ein komisches Gefühl.

Ich denke, wer heute mit den Begriffen

Lehre, Belehrung, Schulung, Vermittlung

hantiert, meint noch zu oft genau das. Und handelt entsprechend. Oder macht halt Unterricht. Das bedeutet dann

Anleitung, Ausrichtung, Unterwerfung, Steuerung und Belehrung.

Passt das noch in eine Zeit, in der es darum geht, das Lernen zu arrangieren und Lernsituationen zu gestalten? Definitiv nein. Auch diese Bezeichnung gehört in die Mottenkiste. Oder das Lehrerzimmer. Ja, gibt es noch, komplett aus der Zeit gefallen. Ein Teamzimmer macht sich doch besser. Und ist einladend - nicht nur für Lehrer.

Krankenschwester, Kondukteur, Automechaniker, alles Berufsbezeichnungen, die wir im letzten Jahrhundert zurückgelassen haben. Bewusst, weil für das Verständnis der zu erledigenden Arbeit nicht mehr passend. Interessant, dass “Lehrer:in” weiterhin die gängige Berufsbezeichnung ist. Entspricht diese noch dem Berufsbild? Wenn es um Belehrung geht: Ja. Wenn es um die Begleitung von Lernprozessen geht: Nein. Eine komplett andere Ausrichtung. Und ein anderer Ansatz: Hier die Lehre, das Vermitteln. Da Lernen als eigenständiger Prozess. Und die Begleitung.

Wenn wir uns “entlehren” wollen (Begriff geprägt von Rolf Arnold), brauchen wir dringend auch die sprachliche Fokussierung auf das Lernen.

Wenn es in den Medien um Schule geht, sehe ich oft Bilder, da steht die Lehrperson vor einer Klasse, vermittelt ihren Stoff. Hinter ihr sichtbar die schwarze Wandtafel, die Schüler:innen strecken hoch. Echt jetzt? Könnten nicht auch die Medien ihre Archive mal etwas entrümpeln?

Und eine Bildsprache finden, die Lernen zeigt, nicht Belehrung.

Oder ich lese von Schüler:innen, die die Schulbank drücken. Was soll das? Wo gibt es noch Schulbänke? Das alles sind Bilder und beliebte Beschreibungen, mit denen Medien Bild und Sprache über die Schule prägen. Und diese damit im letzten Jahrhundert festnageln. Das mag leider für viele Schulsituationen landauf landab stimmen, Die Berichterstattung wird so aber nichts dazu beitragen, dass Menschen ausserhalb der Schule sich von anderen Formen des Lernens und einer Weiterentwicklung von Schule ein Bild machen können.

Wie befreiend und zukunftsorientiert wäre es, wenn Schüler:innen ganz einfach zu Lernenden werden dürften und Lehrpersonen zu Lernbegleiter:innen. Ein anderes Verständnis, ein anderes Bild, ein anderes Lehren und Lernen.

Doch: Die Sprache in Organisationen wird geformt von Vorstellungen, die in dieser Organisation gelten. Oder noch gelten. Und diese Vorstellungen sind eben noch zu oft das grösste Hindernis für Entwicklung.

Lichtblick: Wenigstens in der Berufsbildung sind wir einen grossen Schritt weiter. Der Lehrling stirbt aus, Auszubildende sind einfach Lernende. Und der Lehrmeister? Wird zum Berufsbildner. Geht doch! Und die Lehre? Klar. Wird zur Ausbildung. Oder zur Lerne. Warum nicht?

Zurück zu meiner Eingabe. Stimmt.

Lerngang ist ein (noch) sehr unübliches Wort.

Auch das automatische Korrekturprogramm reagiert störrisch. Ich erinnere mich an meine Arbeit in der Lehrmittelentwicklung (ja, genau, es hiess eben nicht Lernmittelentwicklung). Wir gestalteten Materialien für die Hand der Lernenden. Lernmittel also? Ging nicht. Abgelehnt. Als Lernmaterialien durften wir dann die Unterrichtsmaterialien bezeichnen, die direkt für die Hand der Lernenden gedacht waren und sich für Lernarrangements und offene Formen des Unterrichts verwenden liessen. Hat sich eingebürgert. Immerhin. Lernmittel. Noch nicht wirklich.

Auch Lehrpläne bleiben das, was sie sind: Lehrpläne. Ein Artefakt und ein weiteres Beispiel, wie weit wir doch vom Selbstlernen entfernt sind. Der Plan bleibt in der Hoheit des Lehrers. Lernpläne für die Lernenden hingegen würden helfen, einem anderen Lernen den Weg zu bereiten. Und dazu ein Handbuch mit Ideen für die Lernbegleitung. Ein anderer Ansatz.

Darum wird der Lerngang wohl noch etwas Zeit brauchen. Zeit, um den Lehrgang wirklich abzulösen. Auch lerntechnisch gesehen. Und haltungsmässig sowieso. Denn solange die Lehre, die wahre Lehre, weiterhin in Klassenzimmern, Sälen und Lehrveranstaltungen doziert und referiert wird, wird das Lernen einen schweren Gang haben.

Der Weg von der Lehrwelt in die Lernwelt bleibt ein dornenvoller. Dafür ein sinnvoller. Und zukunftsorientierter.


Inspiration: Neue Narrative #18, das Magazin für neues Arbeiten, Thema Sprache