Unterwegs im Sein

Plattdeutsch und berndeutsch für Hallo
Plattdeutsch und berndeutsch für Hallo

Soeben habe ich die Tür zum Green Tiny House abgeschlossen, das ich die letzten Tage hier in Harlesiel an der Nordseeküste bewohnt habe. Ich muss die Klinke heftig nach oben drücken und mein Blick fällt noch einmal auf die kleine stachelzüngige Pflanze im zu grossen Topf, mit dem - mehr oder weniger sinnigen - Beinamen „Schwiegermutterzunge“. Es handelt sich um einen Bogenhanf und dient diesem 20m2 kleinen Raum als stilvoller und pflegeleichter Luftfilter. Das angenehme Raumklima gründet jedoch nicht nur auf dieser Pflanze, sondern auch auf dem verwendeten Superwood aus Finnland für den Bau der Kabine und dem Ostsee-Seegras, das zur Dämmung verwendet wird. Die Wände sollen so nicht nur frische Luft von aussen aufnehmen, sondern auch verbrauchte abgeben. Alles funktioniert ohne Ventilation oder Klimaanlage. 

Viele weitere Details machen das kleinflächige Zuhause zu einem nachhaltigen und spannenden Wohnobjekt, das - da autark - überall aufgestellt werden kann. Da ich mich sehr für alternative Wohnformen interessiere, werde ich mir die Sache bei Gelegenheit noch ein bisschen genauer anschauen,

Die folgenden Links bieten weitere Infos für Interessierte:

Streunend unterwegs

Wattenmeer bei Neuharlingersiel bei Ebbe
Wattenmeer bei Neuharlingersiel bei Ebbe

Die Aktivitäten in den Tagen nach dem Erreichen meines Ziels lassen sich kurz so beschreiben: immer noch unterwegs - aber weniger zielgerichtet, eher streunend. In mir hatte sich alles darauf konzentriert, die Nordsee zu erreichen, und zwar grossteils zu Fuss. Nun war das geschafft, und ich hatte mir für die Gestaltung der weiteren Zeit nichts Konkretes vorgenommen. Ich wusste aber, dass das Ziel einer solchen Anstrengung nicht einfach die Heimreise sein kann. „Wenn ich schon mal dort oben bin,“ sagte ich mir, „dann will ich mir auch noch ein bisschen was anschauen und das Meer und die Landschaft auch wirklich erleben“.

Kanallandschaft bei Hinte
Kanallandschaft bei Hinte

Es bestanden Ideen, ich stellte mir das eine oder andere vor. Mehr jedoch nicht. Zum Glück. Ich wäre enttäuscht gewesen.

Ich hätte nämlich nie gedacht, dass in Friesland zu dieser Zeit so viele Touristen unterwegs sind. Tja, es war halt Ferienzeit in vielen deutschen Bundesländern. Und die Deutschen machten Ferien zu Hause. So waren erschwingliche Unterkünfte stark belegt, oft ausgebucht. Mein UnterwegsSein richtete sich also öfters nach dem noch zu bekommenden Dach über dem Kopf. Gleichwohl habe ich weite Teile und pittoreske Ecken besuchen können, zu Fuss, mit Bus, oder mit dem Rad. Auf das Rad hatte ich ja schon nach Münster mal umsteigen wollen, als mögliche Wanderrouten immer wieder mit schnurgeraden Radwegen zusammen fielen und ich als Fussgänger zum verkehrsbehindernden Exoten wurde. Doch Räder waren nur zu bekommen, wenn man sie auch am gleichen Ort wieder retournierte. Und das brachte mir nichts.

In meinem Kopf hatte die Idee noch so herumgespielt, eine Art Inselhopping über die Ostfriesischen Inseln zu machen. Doch ich war froh, mit Norderney wenigstens eine der Inseln mit Übernachtung besuchen zu können. Diese kann dank einer Fahrrinne gezeitenunabhängig angefahren werden. 

Sonst genoss ich es einfach, mit dem nun gemieteten Rad in der frischen Meeresbrise auf Deichen und kleinen Strässchen, Hecken und Kanälen entlang,  unterwegs zu sein. 

Ziele und Ziele

Deich bei Greetsiel
Deich bei Greetsiel

Unterwegs sein weckt vielfältige Assoziationen. „Sich auf dem Wege irgendwohin befindend“ ist eine Deutung, die ich mal gelesen habe und die mir ganz gut gefällt. Denn „Irgendwohin“ kann sowohl ein ganz bestimmtes Ziel, wie auch das ziellose Umhergehen, das Streunen oder Flanieren bedeuten. Kann ja auch ein Ziel sein, kein Ziel zu haben. Gleichwohl: Nach dem relativ strikten Wanderprogramm über 30 Tage, mit einem klaren Hauptziel und täglich anzustrebenden Zwischenzielen, war die sich neu eröffnende „Programmfreiheit“ nicht nur mit guten Gefühlen begleitet. Irgendwie fehlte plötzlich die Aufgabe, der Antrieb, die Gewohnheit, das konkrete Ziel und die aus dem Gemachten und Vollbrachten resultierende Freude und Zufriedenheit. 

Eine interessante Beobachtung und Erfahrung. Nicht neu, klar. Und doch - für mich Fingerzeig genug, auch in meinem Alltag wieder vermehrt darauf zu achten, passende Ziele zu setzen, in welcher Art auch immer. 

Gedankengang im GedankenGang

Kurzer BarfussGang im Watt bevor die Flut kommt
Kurzer BarfussGang im Watt bevor die Flut kommt

Ich erfahre es als wiederkehrende Freude und Genugtuung: Ich bin in Bewegung - und begehe einen Weg. Ich lege diesen jedoch nicht lediglich zurück, sondern nehme bewusst und mit allen Sinnen wahr, was sich mir bietet. Dieser Mood lässt mich immer wieder frisch und neugierig in den neuen Tag hinein gehen, lässt mich präsent und lernfreudig sein. 

So öffnet das UnterwegsSein neue Horizonte. Als Orientierung. Nicht nur beim Reisen oder Gehen. Das Dazwischen wird zum weiträumigen und vielfältigen Korridor. Und zur eigentlichen Quelle der Erkenntnis. 

In diesem Unterwegs lässt sich vieles erleben. Und vieles denken. So ist für mich auch der Begriff des GedankenGangs entstanden. Gedanken kommen und gehen, kreuzen und verlaufen sich, und sie werden zum GedankenGang in seiner doppelten Bedeutung.

Unterwegs sein bindet mich nicht an Bekanntes. Es verbindet mit Gewesenem und lässt Raum für Werdendes, für Zukünftiges, für Entdeckungen, Erfindungen, Ideen und Visionen. Und es hat viel zu tun mit loslassen. Das loslassen, wo ich herkomme, und manchmal auch das, was ich eigentlich anzustreben glaubte. Der Weg wird zum Ziel. 

Wandern ist das sehende und fühlende Gehen

Tritt zum Übersteigen des Zauns auf dem Deich
Tritt zum Übersteigen des Zauns auf dem Deich

Dieser Satz ist eine Aussage von Harold Fry, den ich auf meiner Reise auf Empfehlung von Sidney, einem meiner Söhne, kennen gelernt habe. Auf seiner unwahrscheinlichen Wanderung ist der Rentner von Süden nach Norden durch England unterwegs, nachdem er spontan, am Briefkasten stehend, entschieden hat, den Brief an eine krebskranke ehemalige Kollegin gleich selber vorbei zu bringen. Eine wunderbare Story, um Aufbruch, das Über-Sich-Hinauswachsen, über Zweifel und Liebe, Entscheidungen, Einlassen, Vertrauen und Demut.

Viele dieser Gefühlsmomente habe ich in meinen Wanderstunden auch erlebt. Immer wieder. Mal intensiver, mal weniger, jedoch stets ganz konkret. Mit mir selber. Im Austausch mit mir. Einlassen auf mich, kritisch, konstruktiv, wohlwollend, in Freundschaft. Mich mit mir, meinen Gedanken, meinem Tun beschäftigen. Ich spüre, es war den Weg wert. Und ich weiss, es war nicht die letzte Fernwanderung, die ich unternommen habe.

Entdeckendes und erkundendes Erwandern

Spannend und abenteuerlich gestalteten sich die  Etappen über Dortmund nach Münster. Ich wusste am Vorabend der diversen Abschnitte jeweils nicht sicher, welche Route ich nun genau einschlagen oder wählen würde. Ich hatte einfach den Zielort - und die Möglichkeiten dazwischen. Auch bewegte ich mich nun - mit Ausnahme der Etappen durch den Westerwald - weniger auf markierten Wanderwegen. So liess ich mich darauf ein, plötzlich auf Wegen zu wandern, die immer mehr zu kaum mehr erkennbaren Trampelpfaden durch Dickicht und Gestrüpp wurden, oder unausweichlich auf stark befahrene Landstrassen ohne Gehsteig oder Seitenpfad führten. 

Dank GPS und intensivem Kartenlesen habe ich schliesslich auch die herausforderndsten Passagen hinter mich gebracht. Dieses Orientieren im Gelände - natürlich mit heutigen Hilfsmitteln - hat mein Entdeckerherz wieder höher schlagen lassen und die Kilometer zum Ziel wurden zu einer spannenden und schweisstreibenden Angelegenheit. Umso erfüllender dann das Ankommen mit dem stillen und ureigenen Gefühl der Selbstwirksamkeit und Zufriedenheit.

Seelenlos wirkende Städte

Fussgängerzone Wilhelmshaven
Fussgängerzone Wilhelmshaven

So haben sich weite Wanderstrecken über Land, Feld und durch Wald immer wieder abgewechselt mit herausgeputzten Einheitswohnsiedlungen in ländlichen Orten, kleineren Städtchen oder grösseren Städten wie Siegen, Hagen, Dortmund und Münster. 

Wie mit Kehl und Mainz, wurde ich auch mit den anderen von mir durchstreiften deutschen Städten nicht recht warm. Diese Städte strahlen für mich etwas Linealistisches, etwas Steriles in ihrem Aufbau und ihrer Gestaltung aus. Auch staune ich, wie omnipräsent die „Kraftfahrzeuge“ im Stadtbild immer noch sind. Aus „autogerechten“ Städten werden erst langsam „menschengerechte“ Städte. Auch wird mir bewusst, dass Jahrhunderte alte Bausubstanz, die mir Wohlbefinden und eine Art anarchische Sicherheit gibt, hier oft fehlt und einer gewissen Kälte und Seelenlosigkeit Raum gibt. 

Nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass viele dieser Städte im zweiten Weltkrieg zu grossen Teilen durch Bombenangriffe zerstört wurden und auch alte Gebäude wie ein Dom in Dortmund oder Kehl nicht verleugnen können, dass sie nach dem Krieg wieder - wenn auch im alten Stil - neu aufgebaut worden sind. Und so regiert die Rationalität und es fehlen etwas der Charme und das gewachsen Chaotische.

Unterwegs zum Unterwegs im Sein

Oft komme ich mir in meinem Leben als eine Art Nomade vor. Klar wurde auch ich mal sesshaft, doch in meinem Innersten war sie wohl immer da, diese Lust aufs Unterwegs sein, dieser Drang, aus der SessHaft auszubrechen, um andere Räume und Wege zu erkunden und zu begehen. 

Diese Freude am Gestalten von Zwischenräumen, am Aufnehmen von Werdendem, am Entwickeln von Entstehendem, in Zusammenarbeit mit Menschen in Bewegung, hat mich von jeher fasziniert. 

So bezeichne ich heute Unterwegs sein als eine Art Lebensmotto, vereine in meinem Erleben die Begriffe „unterwegs“ und „sein“, schweisse sie zum UnterwegsSein zusammen und fühle immer stärker, dass UnterwegsSein auch zu einem Unterwegs im Sein wird. Unterwegs mit mir zu mir. 

Das Begehen von Räumen öffnet den eigenen Begegnungsraum

8 kg Gepäck am Rücken-alles Wesentliche dabei
8 kg Gepäck am Rücken-alles Wesentliche dabei

Mein ganzes Leben lang war und bin ich also unterwegs zwischen Menschen, Orten, Engagements, Projekten, Berufen, in Gedanken und in Taten. 

Ein solches Leben mag vielleicht aus der Warte der Niedergelassenen, Sesshaften und oft auch ein bisschen Abwartenden etwas unstet und beliebig wirken. 

Doch mich hat es belebt und neugierig bleiben lassen. 

So wurden aus Lebensthemen Lernthemen. Nie konnte ich mich mit Auswendiglernen, Reproduzieren und dem Erfüllen von sinnlosen Aufträgen arrangieren. Ich scheiterte auch regelmässig in diesem Tun, dieser Kultur des Sesshaften, des Bewahrens. Und logisch suchte ich zeitlebens nach für mich passenden Wegen, die Welt zu erkunden, Dinge auch anders zu sehen und zu gestalten, neu zu verstehen und vielfältige Erfahrungen zu machen.

Dieser Drang und diese Neugier hat mich jetzt auch noch einmal in die Welt hinaus gelockt. Ich liebe es, wenn sich Dinge, Situationen spontan ergeben und entwickeln. Und ich habe mit meinem leichten Gepäck wieder erfahren dürfen, dass, wer wenig mit sich trägt, auch spontaner auf Entwicklungen reagieren kann. 

Und wer sich bewusst ist, wo er steht und geht, ist orientiert und wird frei für Zeichen, die sich zeigen, im Aussen und im Innen. Erlebnisse fliessen ein und Entscheidungen ergeben sich.

Ich nehme viele dieser Lernerfahrungen mit in die nächste Phase meines Lebens. Sie werden mich anleiten und begleiten. Und sie geben mir die Kraft und die Überzeugung, bei mir zu bleiben und neue Wege zu gehen. Wohl bald wieder, auf anderen Spuren, zu neuen Zielen, in die nahe und weite Welt hinaus.

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry von Rachel Joyce