Lernen im Wandel

Wieder mal geht die Idee ins Land, man könnte doch, bei so viel angedachter und gelobter und leider etwas seltener sichtbar und erlebbar gemachter Innovation im Bildungs- oder Schulwesen, eine Plattform, eine Landkarte schaffen, die eine Vielzahl dieser Veränderungen, Projekte und Entwicklungen sichtbar machen würde. Eine Sichtbarkeit, die verbindet, inspiriert und Menschen in ihrem Handeln bestärkt. So weit, so gut. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch werden wir mit diesen paar Positionslichtern auch wirklich gesehen und werden wir sogar Landstreifen erhellen, die seit Jahren auf der dunkeln Seite der Entwicklung stehen? Ich bezweifle es. Und würde mich doch so gerne überraschen lassen. 

Es kann sicher nicht schaden, wenn eine Lehrperson, die gerade Lernwerkstätten für sich und ihre Schüler:innen entdeckt hat, auf der Karte sehen kann, dass sich in der Nachbargemeinde, in einem anderen Klassenzimmer, gleiches tut. Oder wenn Schulen, die Partizipation nicht nur auf dem Leitbild abgebildet haben, sondern aktiv Mitbestimmung leben, bereit sind, anderen zu zeigen, wie diese Bestrebungen Schüler:innen und Eltern auch noch über den Elternmorgen, den Klassen- oder Schülerrat hinaus, im Schulalltag, spürbar und erfahrbar gemacht werden können. 

Doch reichen Inspiration und Sichtbarkeit aus, um Veränderungen in Schulen und im Unterricht voranzubringen? Oder ist die Zeit vielmehr gerade abgelaufen, in der sich Schulen und Lehrpersonen noch in eigener Regie entwickeln konnten? Werden sie sich nun „einfach“ verändern müssen? Weil sie die Chance zur organischen Entwicklung (in der Breite) verpasst haben und sich nun vor die Tatsache gestellt sehen, im Überlebensmodus die schiere Existenz zu sichern? In Angesicht von Flüchtlingsströmen, kritischer werdenden Eltern, Lehrkräftemangel, grossen Klassen, psychischen Problemen. 

Längst hätten Themen wie Ausbildung (vom Fachexperten zur Lernbegleiterin), Lern- anstatt Lehrsettings (Aufhebung von Klassen, Jahrgangsklassen und von Stufenzentren, offene Lernräume anstelle von Klassenzimmern), Selektion (eine inklusive Schule für alle), Entfächerung (das wahre, informelle Lernen findet eh ausserhalb von Unterricht statt), Selbstlernen vor Belehrung, Ende der Notenmeierei undsoweiterundsofort, in einer „Krevolution“ von Bildung und Schule angegangen und verändert werden sollen. Doch wenig ist passiert. Zu wenig. Innovative im Schuldienst nutzen Nischen, ritzen Grenzen, tun so als ob, gestalten sich ihren Playground und sind froh, wenn sie in ihrem Tun wenigstens geduldet werden. Gemeinsam getragener Veränderungswille und Freude an neuem Lernen sieht anders aus. 

Schulentwicklung ist gescheitert. Zwei Schritte vorwärts, drei zurück. Das bringt nichts. Die Versuchsphase läuft nun schon über drei Jahrzehnte. Der Konservatismus und die Behalteritis hängen überall drin. Wie in anderen Systemen auch. Die Schule wird sich selbst nicht aus den komplexen Verstrickungen, Gewohnheiten, Fachschaften, Vorteilsnahmen, Nachteilsausgleichen, Besitzstandwahrungen, Nachprüfungen, Notenkonferenzen, SOS-Lektionen, Krankschreibungen, Stofffüllen, didaktischen Reduktionen und Kompetenrastern befreien können. 

Und gleichwohl: Aufgeben geht gar nicht! Ich glaube jedoch, die Ent-Wicklung kommt von aussen. Nein, nicht von der Politik, schon gar nicht von der Bildungspolitik. Wir brauchen zu den Verstrickungen von oben nicht noch Schaumschlägerei. Nein, unser Ansatz ist ein anderer: Lasst uns das Lernen befreien! Geben wir es uns Lernenden zurück. Holen wir es raus aus den Silos, die es nur noch verwalten und verordnen. Lernen wir wieder, selbstbestimmt und in eigener Verantwortung zu lernen.
Anstelle von „Schulen im Wandel“ stehen wir darum für ein „Lernen im Wandel“. Wenn es uns gelingt, dem natürlichen Lernen wieder Leben einzuhauchen, werden Menschen, jüngere und ältere, vermehrt selber entscheiden, in welcher Form sie was wo lernen wollen. Darauf arbeiten wir hin. Indem wir es im Kleinen tun.

Wie auch immer. Ich habe mir also am Wochenende etwas Zeit genommen und versucht, die mit einem Video eingeführten Fragen zu beantworten. Ich hätte es wohl nicht gemacht, wenn nicht Homeschooler:innen und alternative Bildungsorte speziell zum Mittun ermuntert worden wären und nicht schon mit der ersten Fragestellung deutlich geworden wäre, wie schulisch konditioniert offensichtlich auch offener denkende Menschen und Organisationen immer noch sind. Entschulung und Entlehrung tut Not! 

Zur Einleitung habe ich folgendes geschrieben: 

Habe mir gerade euer Video angeschaut. Vielen Dank für die Initiative. Ich bin auch der Meinung, dass sich die Menschen, die Schule oder Lernen anders denken, besser vernetzen sollten. Ihr sprecht es an: Es geht nicht nur darum, voneinander zu wissen. Es geht vor allem auch um Sichtbarkeit. Und darum, ein Bild davon zu bekommen, in welcher Weise Veränderungen laufend geschehen und wo wie anders gelernt wird. In diesem Sinn habe ich in der Folge eure Fragen beantwortet. Auch im Wissen, dass Vernetzung kein neuer Gedanke ist, andere es auch versuchen und versucht haben. Kranken wir vielleicht auch ein bisschen daran, dass wir vor lauter Begeisterung für das eigene “Werk” den Blick für andere Alternativen etwas aus den Augen verlieren? Nils Landolt ist am gleichen dran mit “Schulwandel” und Markus Roos mit dem “Bildungsforum Schweiz”. Vielleicht klopft ihr da mal noch an. Wie auch immer. Bin gespannt, was aus eurem Projekt wird. 

Dann folgen die Fragen und meine Antworten. Sie zeigen, wie weit wir uns mit Colearning bereits vom gängigen Schul- und Unterrichtsdenken entfernt haben. 

An welcher Schule /Stufe arbeitest du?

Wir verkörpern weder eine Schule noch eine Stufe. Wir sind ein Lernort mitten in der Arbeitswelt, im Leben. Unsere Homebase, unser Hub ist der Coworking & Colearning Space Effinger in Bern. 

Was hat sich bisher an der Art deines Unterrichts verändert und welche Auswirkungen hat das im Team und an der Schule? 

Wir haben die schulische Terminologie, das inhärente hierarchische Denken, das traditionelle schulische Setting (Einrichtung, Ausrichtung) mit Konsequenz hinter uns gelassen. Wir sind keine Schule, schon gar keine Privatschule. Es gibt keinen Unterricht. Wir sind eine lernende Community, eine Colearning-Community. Wir sind eingebettet in die alltägliche Lebenswelt. Lernen findet integral und zirkulär, frei und beiläufig, informell und im Austausch mit anderen statt. Colearner:innen sind Menschen aller Generationen, die die Arbeits- und die Lernwelt verbinden, selbstbestimmt lernen, ihr Lernen sichtbar machen und Lernerfahrungen mit anderen teilen. 

Welche Projekte und Schritte stehen als nächstes an? 

Wir ermöglichen, entwickeln und unterstützen laufend neue Auswüchse dieser lernenden Bewegung. Wir ermutigen Menschen jeden Alters, selbst zu lernen. Wir setzen der Belehrung das Lernen in eigener Regie gegenüber. Selbstlernen in Gemeinschaft ist unser Motto. So haben sich in den letzten Jahren neben Colearning Bern auch das Lernunternehmen Pilzfarm Bern und neu ein Lernbetriebsverbund entwickelt. 

Wie habt ihr die Kinder in den Veränderungsprozess mit einbezogen und wie gehen die Kinder mit den Neuerungen um? 

Ein Jugendlicher und sein Vater (Coworker) waren Ursprung der Idee. Die Jugendlichen sind darum seit Beginn in diesen soziokratisch geprägten Entwicklungsprozess involviert. 

Wie hast du / habt ihr die Eltern einbezogen oder informiert? Wie war ihre Reaktion? 

Die Eltern von Jugendlichen sind eingeladen, sich selbst in der Community einzubringen.

Was ist deine Vision der Schule in der neuen Welt? 

Den Begriff und den Ort “Schule” gibt es nicht mehr. Wir denken nicht nur inklusiv, wir handeln auch entsprechend. Genau so, wie Senior:innen wieder in genossenschaftlichen Lebens- und Wohnformen integriert sind, holen wir Schüler:innen aus der Stigmatisierung, Verbannung und der Separierung heraus. Aus Schüler:innen werden wieder Kinder und Jugendliche, die lernen, forschen, experimentieren, erkunden - überall, selbst und ständig.  Die Lebenswelt ist wieder der Lernort, wo vielfältige Lernerfahrungen gemacht werden können. Schulhäuser werden zu Lernhubs, die 365 Tage im Jahr allen Menschen für fachliche Expertise, Inputs und Austausch offenstehen. Wir setzen bereits um, was wir können: www.colearning.org

Wandeln wir das Verständnis von Lernen, entrümpeln wir Vorstellungen, die zu oft von negativen Schulerfahrungen geprägt sind. Lernen ist nicht Schule. Lernen ist die Chance, das Leben und alles, was dazugehört, auf eigenen Pfaden zu erkunden und zu entdecken. In jedem Alter. Überall, jetzt und ständig.