Schneckenrennen

„Man erreicht eigentlich das, was man erreichen möchte, dadurch, dass man das Leben in einer ständigen Rehearsal, einer ständigen Probe hält. Vielleicht eine Generalprobe, aber es ist eine Probe.“

Francis Alys

Zu Beginn gleich ein kleiner Einschub.

Ich bin mittlerweile wieder in der Schweiz. Den Abschluss dieses Blogs habe ich doch nicht mehr auf der Heimreise von der Biennale nach Bern geschafft.

Nun bin ich daran gegangen, einen Schluss zu kreieren. Doch wieder kommt mir ein Blog leicht in die Quere, natürlich ganz im positiven Sinn. Es sind die Gedanken von Ben Zaugg. Zu Kunst. Auch er ist in diesem Kosmos hängen geblieben, nachdem er im Buch “der Weg des Künstlers” von Julia Cameron auf die Morgenseiten gestossen ist. So heisst denn auch sein Blog, der sich dem Finden der Kreativität widmet. Und dem Schreiben. In seinen Gedanken zu Kunst, Kreativität und Künstlersein sind wir uns dann in der Fragestellung, wie nahe Kunst und künstlich sind, begegnet. Ein interessanter, nicht geplanter, sich fliessend ergebender Gedankendialog über vier Blogs hinaus. Hier ist zu lesen, was er bei und mit Kunst empfindet und dazu festgehalten hat. Und wie künstlich er Kunst sieht. Oder so. 

Auch habe ich im letzten Blog “künstlich und Kunst’’ mit der Künstlichen Intelligenz (KI) in Verbindung gebracht. Hin zu einer KI, die eben auch Kunst macht oder künstlerisch tätig ist. Seien das nun Bilder, Skulpturen oder Musik. Der Frage, ob und unter welchen Prämissen denn kunstvolle Werke durch KI zu Kunst werden, ist auch der Kurator Hans Ulrich Obrist nachgegangen. Eine spannende Abhandlung findet sich in einer Ausgabe von Kulturtechniken 4.0 des Goethe Instituts. Obrist betitelt seinen Artikel mit “das Unsichtbare sichtbar machen: Kunst trifft auf KI”. 

Ein weiterer interessanter Zusammenhang: Bereits zu Beginn unserer Blog-Challenge hat Marco Jakob von einer KI-Entdeckung berichtet, die ihm Illustrationen zu seinen Texten liefern. Spannend! Bereits ein oder zwei Sätze genügen zur Kreation. Im Blog Blogbilder generiert mit künstlicher Intelligenz stellt er das Programm Dall-E von OpenAI vor.

Und apropos Zusammentreffen: Im oben erwähnten Buch von Julia Cameron  finde ich zufällig folgendes Zitat von Oscar Wilde: “Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.” Ein gutes Jahrhundert liegen sie auseinander, Obrist und Wilde. Ich will die Aussagen der beiden ja jetzt nicht direkt vergleichen. Bewahre. Doch interessant ist schon, dass der eine auf das vielleicht tiefer liegende Geheimnis des Sichtbaren zielt, der andere das Ergründen des Unsichtbaren als Herausforderung nimmt.   

Beide Ansätze machen deutlich, dass nichts so ist, wie es scheint. Das Leben in einer ständigen Probe. Unfertig. gestaltbar. 

Hätten mich diese Zitate auf meinem Rundgang durch die Arsenale Hallen begleitet, ich hätte vielleicht mehr geforscht, gefragt und nach dem Geheimnis im Sichtbaren und im Unsichtbaren gesucht.

Und damit zurück zum eigentlichen Text.

Ich war also am Sonntag noch einmal unterwegs.

Durch die arsenalen Hallen der Biennale in Venedig. Schon krass, was da Auge, Ohr und Gemüt so präsentiert bekommen. Wie verarbeitet mensch das eigentlich in zumutbarer und doch einigermassen nachhaltiger Weise? Die ausgestellten Werke sprechen mich so mässig an. Vieles erscheint mir surreal. Ich sehe keinen Bezug, mag mich jedoch nur partiell tiefgehender einlassen, Texte lesen, ergründen, was gemeint sein könnte. 

Will Kunst gefallen? Auch und doch nicht unbedingt. Will Kunst zum Denken anregen? Hoffentlich. Es braucht jedoch einen Anzünder, einen Funken, der springt. Möchte ich gar eines dieser vielen Werke in meine Wohnung stellen, an die Wand hängen? Möchte ich mich damit umgeben? Bedingt. Mit wenigen Ausnahmen eher nein. Es handelt sich ja auch nicht in erster Linie um Gebrauchskunst, die ich mir eventuell leisten könnte.

Künstler:innen machen Aussagen. Die eine erfasse ich rasch, die andere bleibt mir auch mit einer Erklärung verborgen. Oder nach längerem Hinsehen. 

Ich ziehe weiter. Meine Beine werden schwerer. Mein Kopf voll. 

Ein nächstes Werk im Blickfeld. Und eine Menschentraube rundherum. Es zieht mich weiter. Es geht von einer Halle direkt hinüber in die andere. Ich kurve um Menschen und Werke, achte auf Bewegungen und Formen, bleibe stehen, suche Vertiefung, gehe näher, lasse Distanz, gehe und betrachte für mich und bin manchmal nur noch Teil der mäandernden Besucher:innenmasse, die sich spätnachmittags durch die altehrwürdigen Hallen aus früheren Militärbestand wälzt. Flockig geht anders, belebt irgendwie auch. Beeindruckt schon. 

Die letzte Halle hat mich entlassen. Ich bin nicht allzu traurig. Frische Luft und eine wunderschöne Abendstimmung empfängt mich. Was für Farben! Welch Schauspiel, Mensch, Natur und Architektur. Im Licht der Dämmerung. Nichts Künstliches. Ein Schattenspiel des Unmittelbaren, im Hier und Jetzt. Kontrast und Ergänzung. Authentisch. 

Fotoimpression Schattenkulisse by insta toon
Fotoimpression Schattenkulisse by insta toon

Erinnert werde ich an eine Performance.

Ich habe sie am vorigen Tag in einem Länderpavillon gesehen. Nichts Gekünsteltes. Es laufen diverse Videos verteilt in einem grösseren Raum. Als erstes fallen mir Kinder auf, die eng beieinander stehen und in den Himmel hinauf schauen. Sie wedeln mit den Armen und produzieren mit ihren Stimmen einen ganz eigenartigen Soundteppich, der mich durch den ganzen Raum begleitet. Alle Filme zeigen Kinder in der Bewegung, im gemeinsamen Spiel. In Hingabe und Begeisterung. Mit einfachsten Mitteln. Alte und neue Kinderspiele, eingefangen rund um die Welt. Da sausen Jungs in einem alten LKW-Reifen eine Schutthalde hinunter, andere Kinder vergnügen sich bei Schneckenrennen und dem Aufrollen einer riesigen Schneekugel. Es wird gehüpft, gesprungen, mit Murmeln und Kräuterbündeln gespielt. Die Lebendigkeit, das Verspieltsein, das Miteinander, menschliches Urverhalten, das fasziniert den Künstler Francis Alys seit vielen Jahren, wenn er Kinder beim Spielen beobachtet und mit seinen Eindrücken kurze Filme gestaltet.

Erst später lese ich, dass die eingangs erwähnten Kinder versuchen, mit ihrem Klangteppich Moskitos abzuwehren.  

Auch den Künstler selbst hat das Spielerische, das Abenteuerliche, die Entdeckungs- und Experimentierfreude durch sein Leben und das Schaffen begleitet. Stets sucht er das Verbindende in seinen Aktionen, ob er nun mitten auf dem Meer kubanische und amerikanische Fischer zusammenbringt, oder mit grüner Farbe eine 24 Kilometer lange Linie durch unterschiedliche Quartiere Jerusalems zieht. 

Fast ein bisschen im Kontrast zu den sehr farbenfrohen Filmen auf den grossflächigen Screens stehen die kleinen, in Aquarell gemalten Bilder, die in einer sehr minimalistischen Art Kinder in ihrem Spiel darstellen. In einem Interview mit dem Künstler höre ich, dass dank dieser kleinen Arbeiten jeweils die Kinder mit ihm in Kontakt gekommen sind und sich so Möglichkeiten für die filmische Dokumentation ergaben. 

Francis Alÿs: The Nature of the Game / Pavilion of Belgium, Venice Art Biennale 2022

Da auch ich ein begeisterter Fussgänger, GedankenGänger und Stadtindianer bin, finde ich die Aktionen von Francis Alys besonders witzig, in denen er, in spielerischer Weise, Rundgänge durch die Stadt zu einer Performance macht. Einmal schiebt er einen Eisblock durch die Strassen, bis nichts mehr da ist, dann macht er einen Paseo durch Mexiko-City und legt eine Wollspur durch die Stadt, indem er seinen Pullover “entfädelt”.

„Manchmal führt es zu nichts, wenn man etwas macht, manchmal führt es zu etwas, wenn man nichts macht.“

Francis Alys

So ist das. 

Ein Bonmot von Francis Alys, das wunderbar zeigt, dass unser Tun - auch als Nichttun - stets mit einer gewissen Leichtigkeit, Gelassenheit und einem Schmunzeln gesehen und hingenommen werden sollte.