Las Palmas und der Stadtstrand Canteras
Und nun also die Kanaren. Zuerst Gran Canaria. Las Palmas. Der Stadtstrand Canteras. Darauf habe ich mich gefreut. Einfach sein.
In einer kleinen Wohnung ganz vorne an der Promenade. 6. Stock. Fenster auf! Blick über den Atlantik bis zum Horizont. Und das Rauschen der Wellen inklusive. Hier werde ich jetzt also einen Monat verbringen. Das Studio habe ich als einzige Konstante meiner Reise bereits früh gebucht. Über Airbnb. Zu einem vertretbaren Preis. Doch hält die Unterkunft auch, was sie auf den Fotos verspricht? Bei kürzeren Übernachtungsdauern spielt mir das eine nicht so grosse Rolle. Aber jetzt? Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Türe auf: Hell, Wände weiss, kleine Räume und ein grosses Frontfenster. Ich höre das Rauschen der Wellen. Alles gut. Passt, die Aussicht auf die Promenade, den Strand und das Meer ist toll. Hier bleibe ich. Muss ich auch.
Als ich nach meiner Ankunft am Busbahnhof und einem Fussmarsch durch die Stadt die Adresse endlich gefunden habe, stehe ich vorerst mal vor verschlossener Tür. Also anrufen. In einem schnellen Englisch bekomme ich Anweisungen, um mittels Code die Tür zu öffnen. Klappt nicht – und dann doch. Wie von Geisterhand. Ich finde den Schlüssel in der beschriebenen Box und dann auch die Wohnung. Ein Mehrfamilienhaus. Doch wie viele Familien wohnen wohl noch hier? Alles voll mit Airbnb? Die Demonstrationen von Einheimischen, die ihre kritische Haltung gegenüber dem nie nachlassenden Touristenstrom kundtun, sind mir noch in Erinnerung.
Bis hierher ist mir persönlich nichts in der Art aufgefallen. Doch ich kann die Reaktion der Menschen verstehen, wenn immer mehr Wohnraum für die hier Lebenden verloren geht und die ganze Infrastruktur an ihre Grenzen kommt. Und ich bin jetzt mal wieder einer von diesen Touristen. Bringe zwar Verdienst, aber auch Belastung. Wir kennen diese Thematik ja auch in der Schweiz. Wenn ich mir vorstelle, welche Menge an Besucher :innen sich in der Zeit, in der ich in Las Palmas war, tagtäglich über die Stadt, die Strandpromenade und den Strand ergossen hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass dies ohne eine Form der Regulierung besser werden soll. Doch wer will sich schon den Ast absägen, auf dem Mensch sitzt? Hier passende Lösungen zu finden, wird nicht einfach. Zu den Touristen, die sich lokal einquartiert haben, kommen auch noch die Gäste der unzähligen Kreuzfahrtschiffe, die tagtäglich im Hafen von Las Palmas festmachen. Schon extrem, wie sich diese Reise- und Urlaubsart nach der Pandemie und trotz aller klimatechnischen Bedenken wieder etabliert hat.
Verkaufte Zukunft
So lautet der Titel eines Buches, das ich, durch eine Sternstunde Philosophie - Sendung inspiriert, auf die Reise mitgenommen habe. Hier beschreibt der Autor Jens Becker, wie die kapitalistische Marktwirtschaft, die Demokratie und unsere individualistische Gesellschaft den Umgang mit der natürlichen Umwelt prägen. Er kommt zum Schluss, dass die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen eine Lösung des globalen Problems Klimawandel blockieren. Und kommt zu der betrüblichen Feststellung: “So bleibt das Gemeinschaftsgut der natürlichen Umwelt eine ausbeutbare Ressource, die am Markt mit Gewinn verkauft und dabei gleichzeitig zerstört wird.“ Darum spricht er in seinem Buch von „verkaufter Zukunft“ (Becker, 2024). Ein eindringlicher Text, der schonungslos die ganze Komplexität dieser dilemmatischen Situation dokumentiert und aufzeigt. Er beschreibt viele ineinander verwobene Probleme und macht wenig Hoffnung, dass die Menschheit die am Pariser Klimagipfel vereinbarten Ziele einhalten kann. Es sei denn, Menschen erkennen die Notwendigkeit des Verzichts und des deutlich reduzierten Konsums.
Tja. Und ich sitze hier am Strand von Canteras, ein kleines Bier vor mir auf dem Tisch, konsumiere diesen Ort und seine Vorzüge als Winterdomizil – und mache mir kritische Gedanken über Kreuzfahrttouristen. Huch! Ich lege das Buch mal weg. Atme durch. Aber ich reise doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, meist zu Land oder auf dem Wasser? Ich entsorge den Abfall, gehe sorgsam mit Wasser und Energie um. Ist mein Unterwegssein schon ein Problem? Ich fürchte ja. Die lokale und die globale Mobilität verursachen sicher mit die grössten Schadstoffmengen auf dieser Welt. Kein gutes Gefühl, mit meinem Handeln eher Teil des Problems als Teil der Lösung zu sein.
Die Lektüre des Buches macht mich nachdenklich und nährt meine Ohnmacht und Überforderung. Mit Beginn der Nutzung fossiler Energieträger entwickelte sich eine kapitalistische Marktwirtschaft, die den Wohlstand steigerte und bei den Menschen ein immer größeres Bedürfnis nach Konsum bewirkte. Dieses Rad zurückzudrehen scheint illusorisch. Der Konsum wächst ungebrochen. An immer neuen Orten auf dieser Welt.
Ich schaue über die zirkulierenden Menschen, alle fröhlich, zufrieden, entspannt, und lasse den Blick über den Ozean schweifen. „Was sagst du zu dieser ganzen Entwicklung?“ Doch richtig. Natur hat ja keine Stimme. Ist einfach da. Kann genutzt werden. Die Wellen schlagen ans Ufer. In der immergleichen Kadenz.
Digitale Nomaden
Offenbar fühlen sich in Las Palmas und auf den Kanaren allgemein auch viele digitale Nomaden zu Hause. Gutes Internet, viele Annehmlichkeiten, das Meer vor der Tür, Wärme das ganze Jahr über und gleichwohl noch relativ günstige Lebensbedingungen.
Auf einem meiner Streifzüge entdecke ich eine Aufschrift:
Eine Einladung klingt anders.
Worin liegt das Problem? Da digitale Nomaden oft gut verdienen, heben sie das Preisniveau bei den Wohnungen an. Eine Art Gentrifizierung findet statt. Die Wohnungen werden für die Einheimischen knapp oder überteuert. Da digitale Nomaden oft nur in ihrer Blase leben, findet keine Integration in die lokale Kultur statt. Sie arbeiten remote für ausländische Unternehmen, nutzen die gesamte Infrastruktur des Ortes, zahlen jedoch keine Steuern. Eine Auswirkung der Digitalisierung. Home Office kann heute in vielen Berufen irgendwo auf der Welt stattfinden. Ein weiteres Beispiel für ein Ungleichgewicht, das niemand so recht lösen kann.
Streifzüge, Bummeleien, Morgenspaziergänge, GedankenGänge, Erkundungen, Wanderungen
So vergehen die Tage. Ich entwickle kleine Routinen. Besuche zum Beispiel öfter die gleiche kleine Bar bei der Markthalle. Hier gibt es wenig Tourist:innen. Sie sind alle an der Promenade. Ich bestelle mir den Kaffee, ab und zu das ganz besondere Croissant-Sandwich aus dem Sandwich-Maker. Ich werde zu einem Stück Kuchen eingeladen. Hausgemacht. Es ergibt sich ein erstes „Sich-Kennen“. Die Frauen freuen sich, wenn ich mich auf ihr Angebot freue. Lachen ist Trumpf.
Ausgepackt war schnell. Gut, bei 14 Kilogramm Reisegepäck ist das fix gemacht. Es liegt nun tatsächlich fast ein Monat Zeit einfach so vor mir. Einfach mal sein. Ankommen.
Ich schlendere über die Promenade, den Paseo. Zuerst Richtung Norden, bis ans letzte Ende des halbmondförmigen Strandes. Ein Café con Leche am vordersten Tischchen in einem der vielen Restaurants. Menschen beobachten, wie sie vorbeiziehen. Selber beobachtet werden. Nichts tun, nichts müssen. Ruhe kehrt ein.
Ich beginne eine erste Safari durch die Strassen und Gassen. Viele weitere folgen. Ich lasse mich treiben. Kreuz und quer. Erkunde Einkaufsgelegenheiten, die nicht gleich am Hauptstrom liegen. Vergleiche die Angebote. An frischem Fisch oder Oktopus zum Beispiel. Oder Käse. Einheimischem. Eine richtige Spezialität hier auf den Kanaren. Wo gibt es anständiges Brot? Frisches Gemüse, Früchte. Ich werde mit allem fündig und beginne, in meiner kleinen Küche meine eigenen Mahlzeiten zuzubereiten. Das wollte ich mal erleben. In den Ferien sein und doch eine Art Zuhause einrichten. Mit alltäglichen Tätigkeiten. Ohne dauernd gestresst zu sein, noch diese Sehenswürdigkeit oder diesen Hotspot besuchen zu müssen. Ich lese viel, schreibe und gestalte meine Collagen im neuen Buch, das ich noch in Paris gekauft habe. “Less is more” ist das Zitat, das den Einband ziert. Ich will es mir vornehmen. Nicht nur hier und jetzt.
Ich kenne die Insel. Ich war schon an vielen Orten. Ich suche mir aus, was ich noch besuche. Nichts! Mindestens keine Ziele weiter entfernt vor der Stadt. Ich erforsche die Stadt. Mit 350’000 Einwohnern hat sie eine stattliche Grösse. Ich komme in Agglomerationen. Ich finde mich plötzlich im nahen Outback. Oder vorne am Meer, hinter dem Hafen, in einer Militärzone, die eigentlich gesperrt ist. Merken tue ich es erst, als ich wieder rauskomme. Gewundert habe ich mich schon, warum man an einem so schönen Ort so wenigen Menschen begegnet.
Die Wellen schlagen ans Ufer. Ich schaue aufs Meer. Reisen heisst, Orte zu erleben. Aber vielleicht auch, ihre Widersprüche auszuhalten. Orte sind nicht nur zu geniessen, sondern auch zu verstehen. Was bedeutet das für diesen Ort? Was bedeutet es für mich?
Ich blicke aufs Meer, auf die immer gleiche Kadenz der Wellen. Sie brauchen uns nicht. Doch wir brauchen sie. Veränderung beginnt nicht mit grossen Lösungen, sondern mit kleinen Entscheidungen. Weniger Konsum, mehr Bewusstsein. Mehr “sein”, weniger “haben wollen” .
Ich schliesse die Augen, höre dem Ozean zu. Ein Moment der Klarheit.
Dann zieht es mich weiter. Meine nächsten Stationen sind die Inseln Fuerteventura und El Hierro. In einem letzten Reisejournal werde ich auch dazu noch ein paar Impressionen und Gedanken teilen. Bald.