Das Neue kann man nur sehen, wenn man das Neue macht

Iterativer Arbeits- und Lernprozess, Design Thinking
Iterativer Arbeits- und Lernprozess, Design Thinking

Es ist kurz vor Jahresende. Dieses titelgebende Zitat von Georg Lichtenberg ist mir soeben in meiner aktuellen Lektüre begegnet. Ein kleines Buch, ein Essay, hat sich zwischen die Altjahrespendenzen gedrängt. Was soll’s. Autor ist Wolf Lotter, Mitgründer von brand eins, einem Wirtschaftsmagazin der anderen Art. “Innovation, Streitschrift für barrierefreies Denken”, heisst der schmale Wurf mit dichter Prägnanz. Und ich fühle mich hineingezogen. Nicht, weil ich das Gefühl habe, dass wir nun mit unseren Unternehmungen und Projekten die Gabe der Innovation mit Löffeln gefressen hätten. Ich finde, es herrscht sowieso allerorts InnovationsInflation. Nein, es geht mir eher darum zu prüfen, inwieweit Innovation tatsächlich Neues hervorbringen kann und was denn Fortschritt und Weiterentwicklung im innovativen Sinn auszeichnet. Eine spannende und erhellende Lektüre. 

Innovation ist abgeleitet vom lateinischen Wort “innovare”, was so viel heisst wie “erneuern”. Mein Text berichtet von der Suche nach neuen Wegen, von einem anderen Verständnis von Lernen und dem Versuch, unternehmerisches Handeln verwoben mit Lernen bewusst zu er-leben und Erkenntnisse zu dokumentieren. Die eingestreuten Zitate zu Innovation stammen alle aus dem Essay von Wolf Lotter. 

“Jede Form von Bildung hat Selbstermächtigung und selbstkritisches Aneignen und Schaffen von Wissen zum Ziel, also den Einsatz des eigenen Verstandes. Innovation ist das Ergebnis dieses Vorgangs.”

Ich versuche gerade, nur schon mal im Kopf, den dichten und vielfältigen Lern- und Entwicklungsprozess ein bisschen aufzudröseln, den wir während den letzten drei Monaten durchlaufen haben. Was wir gerade gemeinsam auf die Beine stellen ist ein Lernunternehmen, ein Projekt, ein Startup - eine Pilzfarm für Edelpilze. 

“Innovatoren sind Unternehmer, die selber denken, sich selber ermächtigen.”

Ich denke zurück. Es taucht ein Bild von einer Skizze auf, die die noch sehr unausgegorene Idee als eine Art Vision darstellt und aufzeigen will, in welcher Form Erwerbsarbeit und Lernen miteinander verbunden und verwoben werden könnten. Eines unserer Credos im Colearning. Und wir wollen es selber tun, bottom-up, im Team, gemeinsam mit anderen interessierten Colearner:innen. Angesiedelt in der Arbeitswelt des Corworking Space Effinger in Bern, geht es uns darum, Erwerbstätigkeit und Lernen unter dem Aspekt der Agilität zu verschmelzen und damit einer Form des lebensbegleitenden Lernens einen Entwicklungsraum und eine Bühne zu geben. Akteure, Colearner:innen lernen frei und interessengeleitet. Im Zentrum stehen normalerweise die persönlichen Projekte.

Der Wunsch von Colearner:innen nach einem gemeinsamen Lernabenteuer und die Idee, unternehmerisches Denken und Handeln und darin integrierte Lernprozesse bewusster sichtbar und erlebbar zu machen, hat uns nun zur Lancierung dieses Lernprojekts und Lernunternehmens geführt. 

Es ist der Versuch, erfahrungsbasiertes Lernen nicht nur erlebbar zu machen, sondern Lernerfahrungen in der konkreten Umsetzung bei der Arbeit zu machen und sie regelmässig zu thematisieren und zu reflektieren.

Action Learning, handlungsorientiertes Lernen und Lernen am Modell sind andere Bezeichnungen für diese Art der Lernform. Anstelle einer schulischen Sandkastenübung situieren wir das Lernen dort, wo es hingehört: Ins Leben, in den Alltag, ins Tätig sein. Gedacht, gesagt, getan! 

“Innovationen, die sicher sind, sind gar keine. Sie werden nur als solche verkauft. Ein Etikettenschwindel. Das Neue birgt immer ein Risiko.”

Doch wer würde Lust haben, hier mitzugehen, in das gemeinsame Lernabenteuer ganz konkret einzutauchen? 

Wir Initianten bringen die Idee ins Schatzhebungstreffen. Schnell wird klar: Das Projekt mit den Pilzen findet Anklang. Wir geben uns ein Budget für erste Abklärungen, Erkundungen und Experimente. Es kann losgehen! 

Nur: Wie gelingt ein passender Einstieg? Ein Einstieg, der allen Interessierten in möglichst offener Form früh die Möglichkeit gibt, sich mit persönlichen Ideen und Vorstellungen einzugeben? Und wie schaffen wir es, erfolgreich ein Unternehmen aufzubauen und uns zugleich das Lernen “on the job” bewusst zu machen, Lernschritte zu dokumentieren? Welches sind die Learnings, die für den Aufbau des Unternehmens entscheidend sind? Welche Lernerfahrungen sind individuell  und ureigen?

“Innovation ist das Kind deiner Kultur der Neugier, verbunden mit Geduld und Durchsetzungsvermögen. Innovatoren sind Unternehmer. Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Knowhow, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich.”

Bereits beim ersten Pilzfarm-Meeting versuchen wir, sowohl die Prise Struktur einzugeben, die etwas Orientierung bieten soll und zugleich Räume zu öffnen für vielfältigste  Gedanken, Inputs und Überlegungen aus der Gruppe. Ungefiltert, vorerst unsortiert, nicht bewertet. 

Die als Übersicht  dienende Wandkarte (Business Model Canvas) hilft uns anschliessend, das projektartige Lernen und das Knowhow zum Aufbau eines Unternehmens visuell zu verknüpfen. Untenstehende Aufnahme  zeigt, wie wir die in einem Brainstorming entstandenen Ideen, Fragen und  vorhandenen Kenntnisse gleich den verschiedenen Elementen des Modells und dem Lernprozess zugeordnet haben. 

Business Model Canvas verbunden mit der Lernspirale von Clonlara
Business Model Canvas verbunden mit der Lernspirale von Clonlara

So entsteht im Verlauf des ersten Meetings bereits eine Vorstellung bezüglich Produkt- und Kundenorientierung, Vertriebs- und Kommunikationskanälen, Schlüsselpartnern und -ressourcen sowie Kosten und Einnahmequellen. Zudem organisieren wir uns als Team soziokratisch. Diese Form der gemeinsam getragenen Verantwortung ist bereits bekannt von der  Colearning- und Coworking-Community Effinger her. Aufgaben und Verantwortlichkeiten ergeben sich aus dem Prozess.

Als wir nach knapp drei Stunden auseinander gehen, sind nächste Schritte geplant und erste Rollen und Aufgaben übernommen. Colearnerin und Pilzfarmerin Sibille schreibt dazu in ihrem Blog:

“Das Lernunternehmen ist nicht hierarchisch organisiert. Da ist keiner, der den Lead hat oder die einzelnen Schritte durchplant. Wir organisieren und steuern uns als Gruppe miteinander. Vieles entsteht gleichzeitig und durch die Kommunikation untereinander. Rollen und Aufgaben kristallisieren sich heraus, so wie auch jene, die sie übernehmen. Wissen wächst in unterschiedlichen Bereichen parallel und gleichzeitig und wird bewusst miteinander geteilt. Das Lernunternehmen ist dynamisch und flexibel. Der Weg entsteht im Gehen.” Treffender kann man es nicht formulieren. Die Form folgt der Funktion

“Innovation ist die Alternative zur Regel. Innovation ist nicht dogmatisch. Und sie ist auch nicht vorhersehbar, so wenig wie die Zukunft selbst.”

Marco, ein anderer Colearner aus unserem Team, beschreibt den Stand der Dinge in seinem Blog zum Lernunternehmen Pilzfarm so:

“Wir stehen noch am Anfang und doch ist schon enorm viel gearbeitet und gelernt worden: Wir haben recherchiert, mit Pilzboxen experimentiert, uns gemeinsam gefreut und erste Rückschläge erlebt, das Klima im Keller gemessen, die Coworking Community informiert, Anfragen für die Kellernutzung an unsere Vermieter gestartet, uns mit Pilzzuchtexperten vernetzt, Exkursionen geplant, Meetings geleitet, Entscheidungsstrukturen etabliert, unsere Arbeitsweise organisiert, Zeitraffer erstellt, Social Media hochgefahren, eine Website entworfen, Blogartikel über Lernprozesse geschrieben und noch ganz viel mehr.”

“Innovation stellt immer die Frage: Was ist möglich?”

Ein vielfältiger und herausfordernder Lern- und Arbeitsprozess ist in Gang gesetzt. Wir lernen miteinander, voneinander. Wir geben einander Einblick in gemachte Erkenntnisse und in den persönlichen Lernprozess. Als Instrument dient uns der Lernblog, mit dem wir auch sonst regelmässig arbeiten. So ermöglichen wir uns persönlich und den anderen im Team, Wesentliches aus dem bisherigen Prozess zu beschreiben und sowohl voneinander wie auch übereinander zu lernen. Das schafft Vertrauen und Transparenz. 

“Das Neue muss vergegenständlicht werden - man muss es be-greifen können. Die treibende Kraft der Innovation ist die Neugier des Individuums.”

Wir besprechen an Teamtreffen die gemachten Erfahrungen und erkennen gemeinsam, wie wichtig es ist, noch einmal gut zu analysieren, warum Experimente geklappt haben oder eben nicht. Danielle, ein weitere Colearnerin, hat bereits erste Versuche mit einer Pilzbrut unternommen. Leider ist der gewünschte Erfolg in einem ersten Anlauf ausgeblieben. Was soll’s? Es gibt weitere Chancen, dem Erfolg auf die Spur zu kommen. Hier ein Ausschnitt aus ihrem Blog:

“Wie wächst der Pilz?

Zuerst muss man ein geeignetes Pilzsubstrat mit dem gewünschten Pilz beimpfen. Das Substrat kann Erde, Holz oder eben Kaffeesatz sein. Je nach Pilz muss es unterschiedlich befeuchtet und belüftet werden.  Nach wenigen Tagen sieht man dann das Pilzmyzel. Es bilden sich weisse Fäden, die bald das ganze Substrat durchwachsen haben. Schliesslich bilden sich an Luft zugänglichen Stellen die Fruchtkörper, die dann geerntet werden.”

Ich finde, dieser Abschnitt von Danielle ist eine schöne Metapher für unser Wirken im Lernunternehmen und im Colearning. Es geht ums Machen. Ums Ausprobieren. Übers Tun gelangen wir zu Erkenntnissen und lernen uns und unser Lernen besser kennen. Wir sind überzeugt, dass es uns gelingen wird, mit dem Lernunternehmen Pilzfarm besser begreifbar zu machen, was wir unter agilem, selbstgesteuertem und selbstbestimmtem Colearning verstehen. 

“Innovation ist mit Lernen untrennbar verbunden. Es geht nicht um “Durchkommen”sondern um “Verstehen”. Es geht um Zusammenhangswissen, um Knowhow.”

Ich schliesse den kleinen Einblick in meine Lernerfahrungen und Beobachtungen mit einem kurzen Zitat aus dem Blog von Joscha. Er hat sich die Aufgabe gegeben, zu unserem Lernunternehmen einen Instagram-Account “Pilzfarm im Effinger” zu gestalten und kurze Videos zu posten. Und er schreibt unter anderem: 

“Ich dokumentiere das Projekt und probiere mich in dieser Richtung aus. Zudem habe ich natürlich auch schlicht und einfach Dinge über Pilze gelernt.”

Im Text von Wolf Lotter steht sinngemäss: Innovationen sind immer auch Entdeckungen. Und Selbstverwirklichung. Und Selbstverwirklichung heisst, sein Bestes geben.