Travelstory - Klappe die Vierte

Offenes Kreiseln in Albanien

Sie kommen von links und von rechts, von hinten und von vorn. Sie fädeln ein und schlängeln sich durch. Sie nutzen den Raum, der sich öffnet und lassen Platz für andere. Autos schieben sich aneinander vorbei, ohne sichtbare Hast. Hoppla! Ab und zu braucht’s mal die Hupe. Man gibt sich Zeichen, ohne Rechthaberei. Der Schweizer Spruch „Wenn jede und jeder für sich schaut, ist für alle geschaut“ verwandelt sich hier in die Weisheit „wenn alle für alle schauen, dann wird’s was“. 

Wir durchqueren einen Kreisel, in der Hafenstadt Vlora in Albanien. Inzwischen haben wir uns schon ganz gut an diese Art des Miteinanders gewöhnt. Oder noch besser: Uns gefällt es. Ein Zeichen wider die Sturheit, die Reglementiergläubigkeit, das „isch e so wüll isch e so“. 

Obschon: Mir ist bis heute nicht ganz klar, wer denn nun Vortritt hat im Kreisel. Auch egal. Alle und niemand- offenbar. Und es funktioniert. Und sowieso: Keine Ampel, weit und breit, im ganzen Land. Tirana ist die Ausnahme. 

Kurzer Abstecher ins eidgenössische Sicherheitsschloss

Museum of Contemporary Art, Skopje
Museum of Contemporary Art, Skopje

Wie weit entfernt haben wir uns doch in der Schweiz von diesen Formen des Miteinanders. Nicht nur im Verkehr. Formen der geteilten Verantwortung und des partizipativen Gestaltens sind nicht eben Kultur. Sowohl „demokratische“ wie auch unternehmerische Strukturen bleiben zu oft stur top down organisiert. Dort, wo das Miteinander geübt und mit dem flexiblen Handeln experimentiert werden könnte, in Schulen zum Beispiel, werden demokratische Rechte zwar gelehrt, jedoch selten gelebt. Und Kreativität schon gar nicht. 

Wird ein gemeinschaftliches Miteinander doch ausprobiert, wie wir das im Coworking & Colearning Space Effinger edit Jshren tun, reagieren die Menschen oft ungläubig und können kaum verstehen, dass das funktionieren kann. „Das muss doch klar geregelt sein!“ und „darin hätte ich kein Vertrauen“ sind Aussagen, die zeigen, wie weit wir es mit dem Delegieren der Verantwortung, mit Misstrauen und Kontrolle gebracht haben. „Ordnung muss sein“ ist im Denken und Handeln vieler Menschen oberstes Gebot und kreatives, agiles, situationsbezogenes und flexibles Handeln wird so zum Störfaktor. 

Hier in Albanien ist es Kultur. Ganz automatisch. Ohne irgendeine Ideologie. Mit all seinen Vor- und Nachteilen,  natürlich. Es ist eine Art, miteinander umzugehen, die wohlfeil austarierte Ordnungssysteme schnell alt aussehen lässt. Umstände ändern sich laufend und schnell, der Umgang damit auch. Wie in einem Kreisel, der nicht erziehen und belehren, sondern nur Verkehrsströme moderieren will. Diese Erkenntnis wird uns auch einholen. Früher oder später. 

Regeln werden freier interpretiert 

Auf unserer Fahrt durchs Land mahnten uns Albaner:innen immer wieder zur Vorsicht. Ich glaube, sie wollten uns damit einfach sagen: Seid aufmerksam, denkt daran, dass Regeln auch mal freier interpretiert werden und man mit allem rechnen muss. Bei Überholmanövern, zum Beispiel. Überholt wird nämlich nicht selten schon fast gemeingefährlich, gerne auch unter Missachtung der ausgezogenen Mittellinie. Was soll’s. Bald haben auch wir gemerkt: Es geht nicht anders. Sonst bleibt man, gerade auf Bergstrecken, ewig hinter den kriechenden und qualmenden Brummis stecken. Eines ist noch zu sagen: Einen Unfall haben wir auf mehreren hundert Kilometern Fahrt durch Albanien keinen einzigen gesehen. Zum Glück! 

So sind auch wir gut durchgekommen, sind defensiv gefahren. Wichtig war, uns Zeit zu nehmen, auf die anderen gut zu achten und froh zu sein, wenn die es auch getan haben.  

Bunker - Überbleibsel aus kommunistischen Zeiten

Schon kurz nach der Grenze fallen sie uns auf. Wie kleine Betonpilze stehen sie in der Gegend rum. Einige noch gut im Schuss, andere bemalt, oder überwuchert und zum Teil zerfallen. 

Bunker war der grosse Fetisch des starken Mannes in Albanien nach dem 2. Weltkrieg. Er hiess Enver Hoxha und regierte das damals kommunistisch geprägte Land als Alleinherrscher, mit Geheimpolizei, während 40 Jahren. Er führte es in die totale Isolation, kapselte sich schliesslich auch gegen Russland ab und trat aus dem gemeinsamen Militärbündnis aus. 

Die Paranoia, nun von den Russen überrollt zu werden wie die Tschechoslowakei, trieb ihn zu folgendem Plan. Er gab Befehl, im ganzen Land diese kleinen Bunker zu bauen. Bis zu vier Personen sollten darin Platz finden. Also brauchte es etwa 600000. Gesagt, getan. Mindestens zum Teil. Gebaut wurden sage und schreibe 200000 Stück. Dann liess er davon ab. Und die Russen waren offenbar sonstwo beschäftigt. 

Auch wir kennen uns mit Bunkern aus. Und mit Einbunkern sowieso. Aber das lasse ich jetzt. 

Doppeladler und Mercedes-Benz

Sicher. Auch die Albaner halten viel von Mutter Teresa. Und die rote Flagge mit dem schwarzen Doppeladler weht überall. Strahlt etwas Martialisches aus, finde ich. Sicher auch etwas Heroisches. Nun gut. Auch wir Schweizer kennen uns ja mit Doppeladlern aus. Das ist aber eine andere Geschichte. Nein, ich wollte noch ganz woanders hin. Zum Stern. Zum Auto mit Stern! Zum Mercedes. Genau! Mercedes Benz.  Krass, wieviele dieser Schlitten hier rumfahren, oder herumstehen. In allen Schattierungen, Modellvarianten und Jahrgängen. Da ruckelt ein etwas abgehalfterter um die Ecke, da steht ein schon fast zur Unkenntlichkeit ausgenommener am Strassenrand. Doch auch die eleganten pfeilen durch die Gegend. Darauf angesprochen erklärt mir ein junger Albaner stolz, für sie sei das Auto das Wichtigste. Und klar: groß, stark, schnell müsse es schon sein. Auch er habe einen der C-Klasse, ältere Baureihe. Er sagt es mit unverhohlenem Stolz. Das sei viel wichtiger als eine schöne Wohnung. Und Kleidung? Wichtig, doch längst nicht so wichtig wie das Auto. Und ja, es sind vor allem die Männer, die diese Kultur prägen. 

Auch die Frequentierung der Autowaschstellen, Lavazz genannt, ist vor allem Männersache. Und gewaschen wird häufig, an jeder Ecke, rund um die Uhr. 

Sowieso waren wir erstaunt, über wie viel Quellwasser das Land wohl verfügt. Überall sprudeln Quellen, sind Menschen mit grossen Flaschen unterwegs, um ihre Wasservorräte aufzufüllen. 

Haben sie WIFI? Können Sie uns das Passwort nennen, bitte? 

Seit einem Monat sind wir mal wieder old school mässig unterwegs - wie früher. Kein integraler Netzzugang. In meinem normalen Datenpaket ist der Balkan nicht enthalten. Teure Pakete müssten gekauft werden. Das wollten wir nicht. Im Gepäck darum ein altes Handy, um Prepaidkarten zu kaufen. Wir sind jetzt durch sechs Länder hindurch gereist. Eine Prepaidkarte gekauft haben wir bis jetzt keine. Wir nutzen mal wieder die Hotspots in den Restaurants und auf den Campgrounds. Wichtig jedoch: wir hatten uns die GoogleMaps der bereisten Länder im Voraus heruntergeladen. Nun können wir sie unter Eingabe der geplanten Route als GPS offline nutzen. Funktionierte ganz gut. Bis wir eines Morgens nach Tirana reinfahren wollten, und bald feststellen mussten, dass Google uns die Route nicht anzeigt. Mist! Natürlich im heftigsten Morgenverkehr. Was tun? Immer schön mittlere Spur halten. Doch was, wenn der Highway sich doppelspurig verzweigt und keine Anschrift auf einer Hinweistafel etwas wiedergibt, an dem man sich orientieren könnte? Nach Gefühl und bei passender Gelegenheit Ausfahrt nehmen, in einen Stadtteil reinfahren und einen Parkplatz anpeilen. Wir hatten keine Idee, wo wir gelandet waren. Hauptsache, wir waren aus dem größten Chaos raus und hatten einen Parkplatz. Bewacht - merkten wir,  als bald einmal einer bei uns am Wagen stand und Euros wollte. Doch, ist diese Müllhalde wirklich ein Parkplatz und der Typ, der Geld wollte, wirklich der Zuständige? Ab und zu heisst es einfach, darauf vertrauen. Darauf, dass es gut kommt. War auch diesmal so.

Wir fanden Unterstützung und WLAN in einem nahen Café und entdeckten schliesslich einen spannenden Weg ins Zentrum, der zu Fuss zu bewältigen war. 

Ein Land im Aufbruch

Albanien hat uns wirklich ausserordentlich gut gefallen. Es ist eine manchmal irritierende und zugleich faszinierende Welt, die sich uns hier eröffnet hat: Einerseits stecken geblieben in der Vergangenheit, andererseits auf dem Weg in eine modernere Zukunft.

So trifft das einfache Leben in einem Haus, das mehr ein Schopf ist, auf mondänes und leicht übertriebenes Hoteldesign. Und dazwischen liegt die hubelige und mit Schlaglöchern versehene Strasse, an der Ecke steht der überquellende Abfallcontainer in einem unansehnlichen Müllhaufen. 

Ein Land im Aufbruch, noch längst nicht alles im Griff. Die Korruption muss nach wie vor ein riesengrosses Problem sein. Die Regierung ist zwar demokratisch gewählt, doch Vetternwirtschaft führt zu einer Politik, die einige Begünstigte und viele Benachteiligte produziert. 

Die Hauptstadt wächst in die Höhe, nachdem über Jahre wenig Geld für Neubauten zur Verfügung stand und der damalige Stadtpräsident von Tirana, heutiger Regierungschef von Albanien, selber Künstler, die Menschen dazu bewog, die bestehenden Plattenbauten mit bunten Farben fantasievoll zu verschönern.   

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